Viele autistische Kinder haben trotz oft hoher Intelligenz große Probleme beim Schulbesuch. Im Rahmen ihrer Autismusstrategie will die Staatsregierung diesen Missstand nun beheben. Im Bildungsausschuss des Landtags stellte das Kultusministerium die Strategie vor.
Es ist eine der größten Errungenschaften der Moderne: das Recht, eine Schule zu besuchen. Doch wie Recherchen der Staatszeitung im vergangenen Jahr gezeigt haben, ist ein regelmäßiger Schulbesuch für viele autistische Mädchen und Buben im Freistaat nur ein frommer Wunsch. 2019 befragten Forscher*innen mehrerer Münchner Hochschulen autistische Menschen aus dem ganzen Freistaat nach ihrer Lebenssituation – darunter viele Schulkinder beziehungsweise deren Eltern. Jeder fünfte Befragte war demnach bereits einmal von der Schule ausgeschlossen worden. Im Durchschnitt fehlten diese Kinder zehn Monate lang.
Andere Erhebungen kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Von den Schätzungen zufolge mehr als 16.000 autistischen Schulkindern im Freistaat werden demnach mehrere Tausend über einen längeren Zeitraum vom Schulbesuch ausgeschlossen.
Er bekomme ständig Rückmeldungen von Eltern, die nicht mehr weiterwüssten, sagt Stefan Bauerfeind, Vorsitzender von Autismus Bayern. „Oftmals intelligente Kinder müssen zu Hause bleiben, weil sie den Präsenzunterricht nicht besuchen dürfen oder können“, so Bauerfeind. Die Eltern müssten dann Ersatzlehrkraft spielen.
Mit einer im Bildungsausschuss vorgestellten Autismusstrategie will die Staatsregierung die Situation der autistischen Menschen im Freistaat verbessern – auch an den Schulen soll sich etwas tun. Demnach sollen Lehrkräfte sowie Schulpsycholog*innen stärker für autistische Kinder und deren Bedürfnisse sensibilisiert werden. So soll etwa der für die Aufklärung von Lehrkräften und Schulkindern zuständige Mobile Sonderpädagogische Dienst A (MSD-A) mehr Personal bekommen. Der Bereich Autismus soll künftig auch explizit in die Ausbildung der Lehrkräfte einfließen. Ganz allgemein ist in der Strategie von einer „Erweiterung der Unterstützung einer inklusiven Beschulung von autistischen Schülerinnen und Schülern“ die Rede.
Rückzugsräume können helfen
Viele autistische Menschen leiden unter einer Filterschwäche, haben eine geringe Lärm- und Frustrationstoleranz. Neben schallisolierten Gängen können etwa Rückzugsräume helfen. Wird es zu laut, ziehen sich die Schulbegleiter*innen mit den Kindern dorthin zurück. In manchen Ländern sind solche Räume auch an Regelschulen längst Standard. Doch obwohl die Hochschule München in ihren Empfehlungen für die Autismusstrategie solche Räume empfiehlt, fehlen diese in der Strategie der Staatsregierung. Ohnehin ist das 44-seitige Papier aus Sicht von Autismus Bayern viel zu unkonkret. Auch die Expertenempfehlung, an bayerischen Regelschulen endlich mehr sonderpädagogisches Personal einzusetzen, fehlt in dem Strategiepapier. Ob und wie viele solcher Stellen konkret in den kommenden Jahren entstehen sollen, ließ die Staatsregierung offen.
Bayerns Behindertenbeauftragter Holger Kiesel kritisierte, wichtige Punkte fehlten in dem Papier. Auch müsse sich zeigen, ob am Ende auch das für Verbesserungen nötige Geld und Personal zur Verfügung gestellt werde. „Es ist jedoch ein großer Erfolg, dass es nun überhaupt eine solche Strategie gibt“, so Kiesel. Der Behindertenbeauftragte betonte vor dem Ausschuss „die große Rolle der Digitalisierung bei der Beschulung von Autisten“. In diesem Bereich setzt die Strategie ganz konkret an: So sollen die Bildungseinrichtungen künftig schwierige Schulkinder per Homeschooling beschulen können. Das Kultusministerium will stärker auf sogenannte Avatare setzen, die den Unterrichtsinhalt live aus dem Klassenzimmer übertragen. Die Kinder können dann von zu Hause oder im Rückzugsraum dem Unterricht folgen. Eine Reizüberflutung im lauten Klassenzimmer kann so vermieden werden. Auch Fernschulangebote sollen genutzt werden.
Margit Wild, stellvertretende SPD-Fraktionschefin, nannte den Aktionsplan „einen Quantensprung“. Sie mahnte jedoch wie Kiesel mehr konkrete Hilfestellungen an. Die richtigen Räumlichkeiten spielten eine Rolle, um eine Reizüberflutung zu verhindern. Der AfD-Abgeordnete Oskar Atzinger sagte, seine Partei stehe „hinter der Autismusstrategie“. Er mahnte eine ausreichende Finanzierung der Projekte an. Matthias Fischbach (FDP) hakte mehrfach bei der Staatsregierung nach, erhielt aber etwa zur Anzahl der zur Verfügung stehenden Avatare ausweichende Antworten. Johann Häusler (FW) betonte: „Teilhabe ist das zentrale Thema – nicht nur der betroffenen Kinder, sondern der gesamten Familie.“ Anna Schwamberger (Grüne) lobte, dass endlich erkannt worden sei, „dass es bei Barrierefreiheit nicht nur um bauliche Barrierefreiheit geht“. Norbert Dünkel (CSU) betonte, Bayern sei „das einzige Land mit einer Autismusstrategie“. Derzeit würden zu viele Kinder mit hoher Intelligenz das Gymnasium oder die Realschule verlassen. Er mahnte eine ausreichende Finanzierung des Aktionsplans an. (Tobias Lill)
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