Die Not für Menschen mit Behinderungen in Bayern ist groß, denn es fehlt nicht nur an freien Pflegeplätzen, sondern auch am nötigen Fachpersonal. Dabei geht es um weit mehr als nur um Betreuung – es geht um die Wahrung von Grundrechten und ein selbstbestimmtes Leben.
Kathrin Higgen hat einen mehrfach schwerbehinderten Sohn. Der 16-Jährige sitzt im Rollstuhl, kann seine Arme und Beine nicht bewegen und benötigt alle zwei Stunden Medikamente. „Ich liebe ihn, aber ich fühle mich wie eine Intensivkrankenschwester“, sagte sie. Seit er 11 Jahre alt ist, geht er ins Internet. Wenn er mit 18 Jahren die Schule beendet, muss er wieder bei seinen Eltern wohnen – weil es keine Anschlussversorgung gibt. „Es gibt einfach keine freien Pflegeplätze“, erklärte Higgen, die den Verein Zukunft Wohnen für erwachsene Menschen mit Behinderung gegründet und eine entsprechende Petition in den Landtag eingebracht hat.
Das bestätigt auch Ulrich von Zanthier, der ebenfalls dem Verein Zukunft Wohnen für erwachsene Menschen mit Behinderung angehört und sich in einer vergleichbaren Situation befindet. „Wenn Kinder erwachsen sind, werden sie gegen ihren Wunsch und den der Eltern nach Hause geschickt – das ist maximale Exklusion.“ Außerdem müsste dadurch ein Elternteil – manchmal auch beide – den Beruf aufgeben. „Und wer kümmert sich, wenn wir mal krank werden oder alt sind?“, fragte er. Von Zanthiere fordert daher eine zentrale Anlaufstelle, an die sich Betroffene wenden können.
„Menschen in Pflegeheimen wollen nicht nur satt und sauber sein, sondern benötigen auch pädagogische Leistungen“, unterstrich Konstanze Riedmüller vom Landesverband Bayern für körper- und mehrfachbehinderte Menschen. Der Verein hat bereits 2023 einen Brandbrief geschrieben, weil die Eingliederungshilfe wegen Finanz- und Personalnot in Gefahr ist – obwohl die Zahl der betroffenen Menschen zugenommen hat. Genaue Zahlen existieren nicht. Sie verlangte, den Beruf attraktiver zu machen und auch in München eine Kurzzeitpflege für überlastete Eltern einzurichten.
Dr. Andreas Magg vom Landes-Caritasverband Bayern wies darauf hin, dass Eltern nicht nur einen Platz, sondern auch einen wohnortnahen Platz benötigen, damit sie nicht aus ihrem gewohnten Umfeld herausgerissen werden. Der Bau werde aber erschwert, da Pflegeheime als Sonderimmobilien gewertet werden, was eine Kreditaufnahme erschwere. Die „Fast Lane“ für schnellere Anerkennungsverfahren für ausländische Pflegefachkräfte reiche nicht. Um Nachwuchskräfte zu gewinnen, werde daher aktuell ein Schulversuch durchgeführt.
Die Arbeitslosenquote schwerbehinderter Menschen ist fast doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt
Für Thomas Bannasch von der Landesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe Bayern bleibt der Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung schwer zugänglich. Im Jahr 2023 habe die Arbeitslosenquote schwerbehinderter Menschen in Deutschland bei 11 Prozent gelegen – fast doppelt so hoch wie die allgemeine Quote von 5,7 Prozent. Dadurch sei der Übergang von Förderschulen über Berufsbildungswerke in Werkstätten für behinderte Menschen oft vorgezeichnet. Bannasch fordert aus diesem Grund mehr Engagement für eine inklusive Arbeitswelt unter Beteiligung des Kultusministeriums.
Für Thomas Pape vom bayerischen Landesverband privater Anbieter sozialer Dienste ist hingegen die Fachkräftegewinnung ein entscheidender Schlüssel für die Personalgewinnung. „Der Beruf und die entsprechende Ausbildung sollte daher im Ausland stärker promoted werden“, erklärte er. Das habe bei Kita-Fachkräften schließlich ebenfalls funktioniert – auch wenn sich über die Qualität streiten ließe. Pape würde gern Pflegeplätze in München schaffen. „Ich kann es aber nicht tun, weil ich für diese Einrichtungen nicht das entsprechende Personal finde.“
Da überall Arbeitskräfte fehlten, werde der Beruf durch die vielen Überstunden immer unattraktiver, erklärte Dr. Jürgen Auer vom Lebenshilfe Landesverband Bayern. Hinsichtlich der Unterbringung sprach er von einem „bundesweiten Wartelistentourismus“. Hinzu komme, dass Vermieter nur ungern an behinderte Menschen vermieten – sogar wenn es sich um Verbände handele. Und selbst wenn gebaut werde, dauere das wegen der Bürokratie oft bis zu zehn Jahren. Er wünschte sich eine zentrale Stelle, die einen Überblick über die Wohnraumsituation bietet und eine Lotsenfunktion übernimmt.
Der Beauftragte der Staatsregierung für Menschen mit Behinderungen, Holger Kiesl, wies darauf hin, dass Einsparungen in diesem Bereich für Betroffene und deren Angehörige existenziell, ja existenzbedrohend sein können. „Es geht beim Thema Wohnen und Arbeit um nicht weniger als die Nichtgewährung von Grundrechten“, erklärte er. Dabei sei das in der UN-Behindertenrechtskonvention und im Bundesteilhabegesetz klar geregelt. Doch noch immer würden viele Arbeitgeber Menschen mit Behinderung als Belastung und nicht als Mehrwert sehen.
Die Personalkosten steigen, die Bundesförderung nicht
Träger der Eingliederungshilfe sind die Bezirke. Deren Sozialreferatsleiter Jakob Wild sah die Versorgungssituation ebenfalls kritisch. Verantwortlich dafür seien der demografische Wandel, die Wohnungsnot und der Fachkräftemangel. Wild wünschte sich, dass die Bezirke ein Mitspracherecht erhielten, wer aufgenommen wird und wer nicht. Vor allem mehrfachbehinderte Menschen hätten es schwer. Ein weiteres Problem seien die durch Tarifabschlüsse gestiegenen Personalkosten, während die Bundesförderung in Höhe von fünf Milliarden Euro gleichgeblieben sei.
Rainer Salz vom Landesverband Bayern für körper- und mehrfachbehinderte Menschen lehnte ein Belegungsrecht für Kostenträger ab. „Es gibt ja nicht zu Unrecht eine Trägervielfalt in Bayern“, erklärte er. Wichtiger sei es, die Personalnot zu lindern. Das gehe am besten, indem man den Beruf beispielsweise über den Bundesfreiwilligendienst bekannter mache. „Wer die Erfahrung gemacht hat, wie sinnstiftend die Arbeit ist, der bleibt oft“, so seine Aussage. Zusätzlich sollten die Dokumentations- und Berichtspflichten auf ein Minimum zurückgefahren werden. Zeitarbeitskräfte sind aus seiner Sicht keine Lösung.
„Wir sind die, die Platzanfragen regelmäßig ablehnen müssen“, sagte Ernst-Albrecht von Moreau von der Stiftung Pfennigparade. Dabei sei es das erklärte Ziel, Menschen ein selbstständiges Wohnen zu ermöglichen. „Aber der Fachkräftemangel ist dramatisch geworden“, fügte er hinzu. Zwar gebe es so viele Pflegekräfte sowie Erzieherinnen und Erzieher wie nie zuvor. „Wir laufen aber der demografischen Entwicklung hinterher“, bemerkte er. Das führe dazu, dass sogar Einrichtungen geschlossen werden müssten. Sein Fazit: „Wir sind in Bayern weit davon entfernt, das Bundesteilhabegesetz umzusetzen.“
Prof. Dr. Reinhard Markowetz vom Lehrstuhl „Pädagogik bei Verhaltensstörungen und Autismus einschließlich inklusiver Pädagogik“ der Ludwig-Maximilians-Universität München nannte es ein „Armutszeugnis“, dass sich aufgrund mangelnder Finanzierung nur wenige Kolleginnen und Kollegen in Deutschland mit dem Thema beschäftigen. Er lobte daher den Bezirk Oberbayern, der Geld für eine Studie bereitgestellt hat, um Qualitätsstandards zu ermitteln. Die Ergebnisse könnten über ein Webportal abgerufen werden und seien mit kostenlosen Arbeitsmaterialien flankiert worden.
Wie behinderte Menschen wohnen, hat Auswirkungen auf das Arbeitsleben
Die bayerische Regionaldirektorin des Fachbereichs Berufseinstieg und Teilhabe der Bundesagentur für Arbeit, Yvonne Schellin, versicherte, Arbeitgebern und Arbeitnehmern die Potenziale für Menschen mit Behinderung im Arbeitsmarkt aufzuzeigen. „Es ist uns ein Anliegen, jungen Menschen den Schritt in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu ermöglichen“, betonte sie. Dafür sei es von Vorteil, wenn Menschen selbstständig wohnen. „Das hat Auswirkungen darauf, wie sie sich ins Arbeitsleben einbringen“, fügte sie hinzu. Wenn dies nicht möglich sei, würde auf die Chancen in Behindertenwerkstätten hingewiesen.
Peter Pfann von der Landesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen kritisierte, dass seit 2024 die Finanzierung von Werkstattgebäuden nicht mehr aus der Schwerbehindertenabgabe möglich sei. Diese muss von Arbeitgebern geleistet werden, wenn sie die gesetzlich vorgeschriebene Quote von 5 Prozent schwerbehinderter Beschäftigter nicht erfüllen. Das sei umso dramatischer, weil zwei Drittel der Gebäude in Bayern älter als 25 Jahre seien und 65 Prozent davon seitdem nicht mehr saniert wurden. Er warnte: „Da rollt ganz still eine Welle auf uns zu.“
Leidtragende dieser Finanzierungslücke sind für Marco Warnhoff von der Tatenwerk gGmbH die Bewohnerinnen und Bewohner sowie die Mitarbeitenden. „Ganz zu schweigen davon, dass gesetzliche Auflagen nicht mehr eingehalten werden können“, bemerkte er. Um ausreichende Sanierungsrücklagen für den Erhalt der Gebäude zu bilden, benötige es staatlich gestützte Kredite und Sonderfinanzierungen sowie der Refinanzierung einer ortsüblichen Miete. Kreditinstitute würden den Verkehrswert der Immobilien mangels ausreichender Miteinnahmen mit null bewerten.
Seine Kollegin Elisabeth Kienel ergänzte, dass dringend die Fördermechanismen vereinfacht werden müssten. „Die Beantragung ist ein kompliziertes und zeitintensives Bürokratiemonster“, erklärte sie. Das gelte auch, wenn behinderte Menschen von Werkstätten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt wechseln möchten. Für diejenigen, die das nicht können, wünschte sich Kienel eine Reform der Verdienstmöglichkeiten in Werkstätten. „Es kann nicht sein, dass sie im Monat nur rund 200 Euro verdienen – und das dann noch von der Grundsicherung abgezogen wird.“
Der Umgang mit vulnerablen Personen ist ein gesellschaftlicher Gradmesser
„Die Humanität der Gesellschaft zeigt sich darin, wie mit den verletzlichsten Personen umgegangen wird“, resümierte der Vorsitzende des Ausschusses für Gesundheit, Pflege und Prävention, Bernhard Seidenath, nach der Anhörung. Er könne sich eine Art Kita-Finder für freie Pflegeplätze für Menschen mit Behinderung vorstellen. Auch der Ausbau der Kurzzeitpflegeeinrichtungen, insbesondere in München, die Unterstützung bei Kreditaufnahmen, der Abbau von Bürokratie und die Imageaufwertung des Berufs waren ihm ein Anliegen.
Die Vorsitzende des Ausschusses Arbeit und Soziales, Jugend und Familie, Rosis Rauscher (SPD), wünschte sich eine echte Teilhabe am Leben und Arbeitsleben für Menschen mit Behinderungen. Sie versprach, dass die Diskurse fortgeführt und die Ergebnisse an alle Landtagsabgeordneten weitergeleitet würden. „Dabei ist die Legislative aber auf die Unterstützung der Exekutive angewiesen“, betonte sie und verwies auf die UN-Behindertenrechtskonvention, wonach alle Menschen mit Behinderungen das Recht haben, in der Gemeinschaft zu leben, ihren Wohnort frei zu wählen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. (David Lohmann)
Kommentare (0)
Es sind noch keine Kommentare vorhanden!