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Fast jeder zweite bayerische Dritt- und Viertklässler leidet laut einer Studie der Universität Würzburg unter erhöhtem Stress. (Foto: dpa)

16.09.2016

Grundschulabitur sorgt für Stress

Immer mehr Schüler werden erst mit sieben Jahren eingeschult – viele Eltern befürchten, dass ihr Kind dem Leistungsdruck sonst nicht gewachsen ist

Für rund 1,7 Millionen Schüler in Bayern begann diese Woche wieder die Schule. Was vielen Eltern und Experten zunehmend Sorgen bereitet: Fast jeder zweite bayerische Dritt- und Viertklässler zeigt laut einer Studie der Universität Würzburg erhöhte Stresswerte. Bei 16 Prozent der bayerischen Grundschüler sei die Stressbelastung sogar so hoch, dass es „von einer Gefährdung des Kindeswohls nicht mehr weit entfernt“ sei, meinen die Bildungsforscher. SPD-Fraktionsvizin Simone Strohmayr befürchtet, dass sich der zunehmende Stress in der Grundschule auch in der steigenden Anzahl von Kindern widerspiegelt, die erst ein Jahr später eingeschult werden. Sie wollte daher von der Staatsregierung wissen, wie sich die Zahl der Zurückstellungen entwickelt hat.

Das Kultusministerium schreibt in seiner Antwort, die Zahl der Schulanfänger an den Grundschulen sei vom Schuljahr 2006/2007 von 122 759 auf 104 253 im Schuljahr 2016/2016 gesunken. Ebenfalls verringert hat sich die Zahl der vorzeitig aufgenommenen Grundschüler: von über 6000 auf 1882. Zugenommen hat hingegen die Zahl der Zurückstellungen. Während es 2006 noch 8075 Kinder waren, stiegt die Zahl bis zum letzten Schuljahr auf 13 967. Aktuellere Zahlen liegen noch nicht vor. Besonders auffällig ist, dass viel mehr Buben als Mädchen zurückgestellt werden: Jedes Jahr sind rund 65 Prozent männlich und 35 Prozent weiblich.

Warum die Zahlen gestiegen sind, kann das Kultusministerium nicht sagen. Mitverantwortlich sei wohl der Einschulungsstichtag, der über fünf Schuljahre hinweg jährlich um einen Monat vorverlegt wurde. Außerdem sei seit dem Schuljahr 2010/2011 die Zurückstellung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf vereinfacht worden. Des Weiteren sei die Zahl dieser Schüler durch das Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention und dem damit verbundenen Wahlrecht der Eltern stark gestiegen. „Es ist davon auszugehen, dass im Rahmen dieser Entwicklung in den vergangenen Jahren auch verstärkt Anträge von Eltern auf Zurückstellungen stattgegeben wurde“, vermutet das Spaenle-Ressort. Nicht zuletzt sei aber auch der Elternwunsch auf Zurückstellung „deutlich angestiegen“.

In anderen Bundesländern sind Schüler und Eltern weniger gestresst

Die Entscheidung über eine Zurückstellung trifft im Rahmen des bayerischen Erziehungs- und Unterrichtsgesetzes die Schulleitung. Ein Kind, das am 30. September mindestens sechs Jahre alt ist, kann beispielsweise für ein Schuljahr von der Aufnahme in die Grundschule zurückgestellt werden, wenn ein Schuljahr später ein größerer Schulerfolg zu erwarten ist.

„Viele Eltern meinen, dass ihre Kinder durch das Schulsystem überfordert werden“, betont die Bildungspolitikerin Strohmayr. „Und da haben sie Recht.“ Bereits in der Grundschule gehe es in großen Schritten zum „Grundschulabitur“, also um das Übertrittszeugnis, dann komme für viele das achtstufige Gymnasium. „Mit diesem Tempo können nicht alle mithalten – ein Jahr später ist da oft besser“, meint die Abgeordnete. Die SPD will die in ihren Augen verfassungswidrige Vorschriften für den Wechsel von der Grundschule auf weiterführende Schulen daher schleunigst abschaffen (siehe Infokasten).

In Bayern und Sachsen werde sehr früh über den gesamten Lebensweg von Kindern entschieden, kritisieren auch die Würzburger Bildungsforscher. In den anderen Bundesländern, in denen es keine verbindlichen Übertrittszeugnisse gibt, seien die Stressbelastungen deutlich geringer. Laut der Studie liegen sie bei Dritt- und Viertklässlern in Hessen zum Beispiel lediglich bei knapp 26 Prozent – 24 Prozent niedriger als in Bayern. Die Forscher raten daher ebenfalls „dringend“ von dem bindenden Modell ab. Das senkt auch die Stressbelastung der Eltern: Im Freistaat sei mehr als jede zweite Familie von erhöhten Stresswerten betroffen – in Hessen „nur“ 33 Prozent. (David Lohmann)

INFO: Ist das Übertrittszeugnis in Bayern verfassungswidrig?
Studie: Letzte Woche hat die SPD-Landtagsfraktion das in Auftrag gegebene Rechtsgutachten des Instituts für Bildungsforschung und Bildungsrecht der Universität Bochum vorgestellt.

Ergebnis: Der wissenschaftliche Direktor des Instituts, Wolfram Cremer, kommt zu dem Schluss, dass die verbindliche Übertrittsempfehlung fürs Gymnasium oder die Realschule aufgrund eines Notendurchschnitts aus drei Fächern an bayerischen Schulen gegen die Grundrechte der Eltern in der bayerischen Verfassung (Artikel 126, Absatz 1) und im Grundgesetz (Artikel 6, Absatz 2) verstößt. „Die Entscheidung über den Bildungsweg des Kindes liegt eindeutig bei den Eltern“, betont Cremer und beruft sich dabei auf das Bundesverfassungsgericht.

Begründung: Laut Cremer zeigen wissenschaftliche Studien, dass Kinder aus sozial schwächeren Familien bei gleichen Testleistungen eine deutlich geringere Chance haben, eine Empfehlung fürs Gymnasium zu erhalten als Kinder aus bildungsnahen Familien.

Fazit: Die SPD-Fraktion fordert statt der verbindlichen eine unverbindliche Übertrittsempfehlung verbunden mit einer professionellen Beratung – gegebenenfalls auch durch die weiterführenden Schulen.

Reaktion: Das Kultusministerium betont, das Übertrittsverfahren sei verfassungskonform und beruft sich dabei auf ein Urteil des bayerischer Verfassungsgerichtshofs von 2014 nach einer Popularklage. Zudem sei ein Schulwechsel auch zu einem späteren Zeitpunkt noch möglich. (LOH)

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