Immer mehr Rettungseinsätze, oft überfüllte Notfallambulanzen. Ist der Rettungsdienst in Bayern auf Kante genäht? Bei einer Anhörung im Innenausschuss des Landtags geben die geladenen Experten fürs Erste Entwarnung. Sie benennen aber auch offen die Herausforderungen für die Zukunft – und verzweifeln immer häufiger an den Bürgern.
Paul Justice, Geschäftsleiter des Zweckverbandes Rettungswesen in Würzburg, will keine Zweifel aufkommen lassen. „Der bayerische Rettungsdienst ist mit Sicherheit nicht auf Kante genäht. Wir sind sehr schlagkräftig und beispielgebend für Deutschland“, erklärte er im Brustton der Überzeugung. Aber, fügt er an, auch der Rettungsgdienst müsse sich regelmäßig weiterentwickeln. Technisch hervorragend ausgerüstet, personell professionell ausgebildet, so sieht Stephan Nickl, Vorsitzender des Rettungsdienstausschusses Bayern, die Lage. Die immer weiter steigende Zahl an Einsätzen und die Probleme bei der Nachwuchsgewinnung empfindet er aber als dunkle Wolken am Horizont. Die Kante, sagt er, rücke seit Jahren näher.
Schon da ist sie für Lorenz Ganterer von der Gewerkschaft Verdi. „Das Kostüm ist schon sehr eng“, stellt er fest und verweist auf wachsende Belastung für die Mitarbeiter im Rettungsdienst. Diese klagten über kaum mehr planbare Freizeit durch Wochenenddienste und Bereitschaften und immer mehr Überstunden. Die Belastung dokumentiere sich in einem höheren Krankenstand und einer steigenden Zahl an Aussteigern weit vor der Pensionsgrenze. Mit ehrenamtlichen Helfern ließen sich diese Lücken nicht schließen, warnt Ganterer und hat dabei Josef Pemmerl vom Rettungsdienst der Malteser an seiner Seite. Was man auch im Sinne der Patienten brauche, sei entweder mehr Personal oder ein Herangehen an die Ursachen für das kontinuierliche Ansteigen der Einsatzzahlen, immerhin knapp 50 Prozent plus im Verlauf der vergangenen zehn Jahre.
Genaue statistische Daten über die Gründe des Anstiegs hat keiner, aber viele von täglichen Erfahrungen gestützte Vermutungen. Etwa ein Viertel der zusätzlichen Rettungseinsätze gehe auf den Zuwachs an älteren Menschen in Bayern zurück, heißt es. Dagegen könne man nichts machen. Aber sonst? Auffällig sei, dass immer mehr Bürger selbst wegen Bagatellen Notrufe absetzten. In etwa 70 Prozent der Einsätze werde eigentlich kein Notarzt gebraucht, berichtet der Sprecher der in Bayern tätigen Notärzte, Michael Schroth. Als Gründe für diese Entwicklung nennen die Experten die zunehmende Zahl an Single-Haushalten, in denen sonst von Familienmitgliedern abgedeckte Hilfsleistungen entfielen, aber auch die Verunsicherung durch falsch interpretierte Informationen aus dem Internet. Da werde so manches Zwicken schnell als lebensbedrohlich gedeutet und der Notarzt geholt.
Die Abgeordneten ziehen unterschiedliche Schlüsse
Als zunehmend problematisch erweise sich zudem das Fehlen von Ärzten auf dem Land und die Schließung kleinerer Kliniken. Die sinkende Verfügbarkeit von Hausärzten und wohnortnahen Krankenhäusern führe zu einer höheren Inanspruchnahme der Rettungsdienste, die dadurch für ihre Einsätze immer größere Entfernungen zurücklegen müssten, hat der Landkreistag festgestellt. Außerdem beklagen die Rettungsdienstler die geänderte Anspruchshaltung der Bevölkerung. Vor allem abends und am Wochenende würden sich viele Bürger nicht mehr an den kassenärztlichen Notdienst wenden, sondern selbst wegen Kleinigkeiten den Rettungsdienst oder die Notfallambulanzen in Krankenhäusern bemühen. Hier fordern die Experten klare gesetzliche Regelungen. „Immer mehr Rettungsdienst löst dieses grundsätzliche Problem nicht“, sagt der für Notfallmedizin am Uni-Klinikum München zuständige Stephan Prückner.
Was die Anhörung auch zeigt, sind Wahrnehmungsunterschiede zwischen den Planern des Rettungsdienstes und den Beschäftigten. Während Arbeitnehmervertreter Ganterer immer wieder die hohe Belastung beklagt, hält Prückner diese für einen „oft subjektiven Eindruck“. Er verweist darauf, dass rund zwei Drittel der Rettungsdienststandorte in Bayern weniger als fünf Einsätze binnen 24 Stunden hätten. Da sei also durchaus noch Effizienzspielraum für die Abdeckung der steigenden Fallzahlen. Eine Intensivkrankenschwester sei während ihrer Schicht laufend gefordert, zieht Prückner einen Vergleich.
Die Politik zieht aus den Äußerungen der Experten unterschiedliche Schlüsse. So sieht sich Harry Scheuenstuhl (SPD) bestätigt, dass beim Rettungsdienst in Bayern „nicht alles in Ordnung ist“. Die hauptamtlichen Mitarbeiter seien überlastet, aufgrund neuer Herausforderungen fehle es an Personal und Einsatzfahrzeugen. Jürgen Mistol (Grüne) hält die Strukturen für „im Grundsatz passend“, doch rücke die Kante wegen der gesellschaftlichen Veränderungen näher. Das müsse die Politik im Blick haben. „Es darf nicht sein, dass alles beim Rettungsdienst abgeladen wird, was andere nicht mehr leisten können“, betont Mistol.
Der Freie Wähler Joachim Hanisch will auch bei den Bürgern und deren Anspruchsdenken ansetzen, erkennt aber auch Handlungsbedarf bei der medizinischen Versorgung im ländlichen Raum. Zufrieden zeigt sich Norbert Dünkel (CSU). Die Anhörung habe gezeigt, dass der Rettungsdienst in Bayern „hervorragend aufgestellt“ und ein „Vorbild für ganz Deutschland“ sei. (Jürgen Umlauft)
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