Er war nicht nur irgendein Funktionär: Michel Friedman scheute in seiner Zeit als Vizepräsident des Zentralrats der Juden bis 2003 vor keinem Thema zurück. Der frühere CDU-Politiker galt vielen als moralische Instanz. Er legte den Finger in die Wunden der deutschen Geschichte und fehlte aufgrund seiner rhetorischen Brillanz gefühlt in keiner Talkshow. Nicht wenigen galt er allerdings auch als arrogant und selbstverliebt.
Vor rund zwei Jahrzehnten kam dann der große Fall des Publizisten und TV-Moderators. Er akzeptierte einen Strafbefehl, trat von seinen Ämtern zurück. Friedman war zuvor mit Kokain erwischt worden und stand im Verdacht, Beziehungen zu Prostituierten aufgebaut zu haben, die von einem ukrainischen Menschenschmugglerring eingeschleust wurden.
Lange war es um den heute 67-Jährigen ruhig geworden – doch nun ist er auf der öffentlichen Bühne zurück. Der Jurist und Philosoph tingelt gerade durch die Republik, um sein neues Buch Schlaraffenland abgebrannt vorzustellen. Am vergangenen Donnerstagabend war er im Bayerischen Landtag zu Gast. Eingeladen hatten Landtagspräsidentin Ilse Aigner und Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung.
Thema der Veranstaltung: „Bayern nach der Wahl“. Es zeigte sich, dass Friedman nichts von seinem rhetorischen Geschick eingebüßt hat – allerdings auch nichts von seiner Streitlust. Seine mitunter polemisch wirkenden Attacken auf Kirche, Bürgertum, Linke und Mitdiskutanten brachten ihm auf dem Podium und im Auditorium nicht nur positive Reaktionen ein. Friedman keilte etwa in Richtung Berlin, dass er den „logischen Kapazitäten dieses Bundeskanzlers zweifelnd gegenüberstehe“. Der katholischen Kirche hielt er die antisemitische Hetze vergangener Jahrhunderte vor.
Vor allem ins Visier Friedmans geriet jedoch ein anderer Gast der Podiumsdiskussion: Thomas Petersen vom Institut für Demoskopie Allensbach. Der Meinungsforscher analysierte nüchtern den Zustand der deutschen Demokratie. Er prognostizierte, die Parteienlandschaft entwickle sich hierzulande immer mehr in Richtung des stark zersplitterten niederländischen Parteiensystems. „Wenn das so weitergeht, haben wir bald sechs bis zu acht relevante Parteien auf Bundesebene“, so Petersen. Bereits heute gibt es mit CSU, CDU, SPD, Grünen, FDP, AfD und der Linken sieben Parteien im Bundestag, Freie Wähler und das Wagenknecht-Bündnis hoffen allerdings auf einen Durchbruch.
Über die Ursachen der jüngsten Erfolge von populistischen und radikalen Parteien bei den Menschen hierzulande sagte Petersen: „Der Anteil derjenigen, die extremistisch denken, hat sich unabhängig von der Parteiorientierung in den letzten Jahren wenig bis gar nicht verändert.“ Petersen geht aufgrund umfassender Analysen seines Meinungsforschungsinstituts davon aus, dass die AfD ihren Erfolg in weiten Teilen Protestwähler*innen verdankt. Das lasse „sich nicht wegdiskutieren“.
Für ihn ist klar: Radikale Bewegungen würden „tatsächliche Sorgen und tatsächliche Missstände der Menschen aufgreifen und von diesen profitieren“. Petersen fügte hinzu: „Und wenn die demokratischen Parteien nicht dazu bereit sind, diese Klagen aufzugreifen, dann werden sich schon andere finden.“
Friedman: "Herr Höcke ist ein existenzielles Problem für meine Zukunft."
Petersen sagte auch: „Die Gefahr besteht nicht im Extremismus. Die Gefahr besteht im Extremismus in Kombination mit anschlussfähigen Gedanken, wo die Leute sagen: Endlich sagt es einmal jemand.“ Mit dieser „Zuckerpille“ würden die Menschen auch radikale Positionen der AfD schlucken, so der Demoskop.
Friedman konterte: „Ich will es klar sagen: Die Gefahr liegt bei Extremisten und extremistischen Parteien.“ Diese hätten antidemokratische Ideen, diese wollten eine andere Gesellschaftsform. Emotional fügte Friedman hinzu: „Für mich als Jude ist ein Extremist eine existenzielle Gefahr.“ Und: „Herr Höcke ist ein existenzielles Problem für meine Zukunft.“
Petersen entgegnete: „Aber da sind wir uns doch einig.“ Friedman solle ihm nicht, „das Wort im Mund verdrehen“, fügte er unter Beifall des Publikums hinzu. Er habe nie behauptet, dass von Extremisten keine Gefahr ausgehe. Als Friedman nachsetzt, wird Petersen lauter: „Jetzt reicht’s aber. Ich habe mich klar und unmissverständlich ausgedrückt.“
Zuvor hatte Petersen spannende Zahlen zur Stimmungslage in Deutschland präsentiert. So hätten Ende vergangenen Jahres nur 28 Prozent der Menschen in einer Umfrage angegeben, „Hoffnung für das neue Jahr“ zu haben. Petersen: „Die Stimmung war so bedrückt wie seit sieben Jahrzehnten nicht mehr.“
Die Menschen haben Petersen zufolge vielfältige Sorgen. Im August 2022 hätten rund zwei Drittel der Befragten angegeben, die massiv gestiegenen Heizkosten würden sie auch persönlich betreffen. Bei der Finanzkrise 2008 hatte nur jeder Vierte gesagt, dass ihn diese Krise auch persönlich betreffe. 59 Prozent der Menschen hierzulande stimmten 2022 laut einer Allensbach-Erhebung der Aussage zu: „Ich kann die Welt nicht mehr verstehen.“ Selbst in den Jahren kurz nach der Wende sei dieser Wert nicht so hoch gewesen. Im August dieses Jahres machten sich acht von zehn Deutschen Sorgen über die galoppierende Inflation. Zwei Drittel der Bundesbürger*innen sagten im Sommer 2022, die Bundesregierung „habe die Lage nicht im Griff“.
Außerdem: 1990 hatten noch mehr als drei von vier Deutschen das Gefühl, „dass man in Deutschland seine Meinung frei äußern kann“. 2016 waren es noch 69 Prozent, fünf Jahre später mit 45 Prozent nicht einmal mehr die Hälfte. Petersen: „Das hat unmittelbaren Einfluss auf die Demokratie.“
Die Politikprofessorin Astrid Séville von der Universität Lüneburg bemühte sich ebenfalls, den Aufstieg der AfD und populistischer Bewegungen zu erklären: „Politik funktioniert immer, wenn sie auf Skandale und Affekte setzt. Damit kann man auch Nichtwähler mobilisieren.“ Dies sei jedoch „ein zweischneidiges Schwert, denn dann weiß man auch, wo die stehen“. Tatsächlich verdankt die AfD ihre Erfolge auch der hohen Zahl an Nichtwähler*innen, die zuletzt für die in Teilen rechtsextreme Partei votierten.
Ähnlich äußerten sich die Gastgeberinnen. Akademiedirektorin Ursula Münch sagte, Populisten hätten in letzter Zeit „viel Futter bekommen“. Und Landtagspräsidentin Ilse Aigner (CSU) analysierte: Weil Abstiegsängste an die Stelle des Wohlstandsversprechens getreten seien, hätten wohl auch noch mehr Menschen als 2018 aus Protest, Verzweiflung oder Wut gewählt. (Tobias Lill)
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