Am Sonntag erklärte Ministerpräsident Markus Söder (CSU), er werde seinen Vize, Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (FW), trotz der Flugblatt-Affäre im Amt belassen. Am Montag spielte die Sache beim politischen Schlagabtausch am Gillamoos bei CSU und FW schon keine Rolle mehr – zumindest wurde sie sowohl von Söder als auch von Aiwanger mit keinem Wort erwähnt. Für die Opposition ist das Thema allerdings noch lange nicht erledigt.
Nach zehn Tagen, in denen Hubert Aiwanger bundesweit im Rampenlicht stand, scheint die Affäre um das Nazi-Hetzflugblatt aus Schülerzeiten nun beendet zu sein. Doch Aiwanger ließ etliche der 25 Fragen, die ihm Söder stellte, mit Verweis auf Erinnerungslücken unbeantwortet, obwohl er gleichzeitig in seiner Antwort auf die Frage Nummer 23 bekundete, es habe sich bei dem Disziplinarverfahren gegen ihn damals um „ein einschneidendes Erlebnis“ für ihn gehandelt. Wie kann das überhaupt sein, dass ein auf dem Schulklo ausgelegtes Flugblatt 36 Jahre später plötzlich als derart brisant betrachtet wird? Viele Mutmaßungen, Halb- und Unwahrheiten sind über den Fall im Umlauf.
Vielfach heißt es, ein ehemaliger Lehrer des Mallersdorfer Gymnasiums, an dem Aiwanger Schüler war, habe das Hetzflugblatt jetzt, kurz vor der Landtagswahl, aus dem Hut gezaubert. Das ist falsch. Das Flugblatt ist seit über dreißig Jahren dokumentiert, und zwar im Anhang einer Schülerarbeit, die im Schuljahr 1988/89 am Burkhart-Gymnasium erstellt wurde.
Die Arbeit liegt der Staatszeitung vor. Sie hat den Titel Letzte Heimat Steinrain? Zur Geschichte des Judenfriedhofs bei Mallersdorf-Pfaffenberg, ihr Autor war Roman Serlitzky, der damit einen Preis gewann. Der besagte Lehrer, unter dessen fachlicher Anleitung die Schülerarbeit entstanden war, hatte sie als Beitrag zum Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten eingereicht. 1005 Beiträge von 5646 Teilnehmer*innen waren eingereicht worden (ein Beitrag kann von mehreren Schüler*innen erstellt sein), doch die Einzelarbeit von Serlitzky erhielt den zweiten Preis.
Der Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten wurde 1973 von Bundespräsident Gustav Heinemann ins Leben gerufen. Er wird seitdem von der Körber-Stiftung alle zwei Jahre zu einem bestimmten Thema ausgeschrieben. 1988/89 hieß das Thema Unser Ort – Heimat für Fremde?, das Plakat zeigte einen Mann in kurzer Lederhose mit einem Turban auf dem Kopf. Es winkten Preise im Gesamtwert von bis zu 250 000 DM.
Was hat das nun alles mit Hubert Aiwanger und dem Hetzflugblatt zu tun, für das sich der heutige Freie-Wähler-Chef 1987 eine Disziplinarstrafe einhandelte? Das Hetzflugblatt ist eindeutig eine vor Neid glühende Parodie auf den Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten. Bei dem ging es nicht immer, aber sehr oft um die NS-Zeit, und das Mallersdorfer Burkhart-Gymnasium hatte sich nach Aussage des besagten Lehrers auch in der ersten Hälfte der 80er-Jahre mehrmals mit Schülerarbeiten daran beteiligt – und auch gewonnen.
Allen, die das Hetzflugblatt 1987 am Mallersdorfer Gymnasium zu sehen bekamen, war klar: Das ist das Werk eines Schülers, der erstens vor Neid auf die ausgezeichneten Schulkameraden verging und der zweitens mindestens mit einem Bein im Nazisumpf stand. Die Aussage von Aiwangers Bruder Helmut, er habe das Flugblatt verfasst, und zwar aus Ärger darüber, dass er sitzen geblieben sei, ergibt dagegen keinen Sinn.
Hetzerische Wirkung
Es waren anscheinend nicht allzu viele, die das Hetzflugblatt am Mallersdorfer Gymnasium 1987 zu sehen bekamen. Nicht weil Hubert Aiwanger, wie sein Bruder Helmut jetzt orakelt, es zwecks Schadensbegrenzung wieder eingesammelt hätte. Kaum glaubhaft, dass einer, der ein Flugblatt mit erkennbar strafbarem, weil volksverhetzendem Inhalt einsammelt, damit es nicht „an den Mann kommt“, also einer, der verhindern will, dass das Flugblatt seine hetzerische Wirkung entfalten kann – kaum glaubhaft, dass so einer es widerspruchslos hinnimmt, dass er dafür als Urheber dingfest gemacht und be-straft wird. Viel plausibler, dass Helmut Aiwanger, aus welchen Gründen auch immer, nun den Kopf für seinen jüngeren Bruder hinhält.
Es hatte einen anderen Grund, dass sich die Verbreitung des mordlüsternen Hetzflugblatts in Grenzen hielt. Die Schulleitung war um den guten Ruf der Lehranstalt besorgt und tunlichst darum bemüht, die ganze Angelegenheit unterm Deckel zu halten. Schulpartnerschaften mit Schulen im Ausland standen auf dem Spiel. Nazi-Umtriebe am Mallersdorfer Gymnasium? Solche Schlagzeilen waren für den (mittlerweile verstorbenen) Direktor der absolute Albtraum. Vermutlich wurden alle Exemplare des Flugblatts, derer man habhaft werden konnte, vernichtet.
Nur der besagte Lehrer dachte anders. Im Anhang der Schülerarbeit von Serlitzky heißt es: „Als Negativbeispiel, wie sich andere Jugendliche derselben Altersstufe mit dem 3. Reich beschäftigen, sei nicht verschwiegen ein Flugblatt, das in Schulklos zirkulierte und von der Schulleitung rechtzeitig kassiert wurde.“ Hier spricht erkennbar nicht mehr der Schüler Serlitzky, sondern der Lehrer, unter dessen Anleitung Serlitzky die Arbeit geschrieben hat.
Zwei Pfeile zeigen auf das schwarz eingerahmte „üble Machwerk“, Randbemerkung des Lehrers: „unüberhörbar auch das Ressentiment gegen diesen Wettbewerb an sich!“ Das Hetzflugblatt mit der Überschrift „Bundeswettbewerb“ wurde 1987 in Hubert Aiwangers Schulranzen gefunden und kann sich somit nicht auf Serlitzkys Arbeit, die im Februar 1989 abgegeben wurde, beziehen. Dennoch bezieht es sich auf den Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten, denn an dem hatten ja auch in den Jahren zuvor Schüler*innen des Gymnasiums erfolgreich teilgenommen.
Wie seine Vorgänger*innen beschäftigte sich auch Serlitzky mit der lokalen und regionalen NS-Geschichte. Auf dem Judenfriedhof Steinrain, um den es bei Serlitzky geht, sind 67 Opfer eines Todesmarschs bestattet, der vom KZ Buchenwald Richtung Süden ausgegangen war. Ende April 1945 hatten die wenigen Überlebenden das Tal der Kleinen Laber bei Mallersdorf-Pfaffenberg erreicht.
Todesmärsche aus den nationalsozialistischen Konzentrationslagern gab es in den letzten Wochen des Krieges unzählige. Die SS trieb Abertausende ausgemergelte KZ-Häftlinge durch Deutschland, um die grausige Wahrheit der KZs vor den anrückenden Befreiern zu verschleiern. Dabei starben Unzählige aus Erschöpfung oder wurden von den Wachmannschaften ermordet.
Dementsprechend gibt es zahllose Grabstätten von Opfern solcher Todesmärsche. Die meisten sind nicht als solche erkennbar. Zu den seltenen Ausnahmen zählt der Judenfriedhof Steinrain bei Mallersdorf-Pfaffenberg, der 1947 „unter dem Protektorat von Staatskommissar Dr. Philipp Auerbach“, wie es am Eingang des Friedhofs auf einer Steintafel heißt, eingeweiht wurde. Der Auschwitz-Überlebende Auerbach wurde 1952 der Korruption schuldig gesprochen und beging daraufhin Selbstmord. Zwei Jahre später wurde er durch einen Untersuchungsausschuss des Landtags rehabilitiert.
Serlitzky schreibt zu Beginn seiner Arbeit, jahrelang habe ihn sein täglicher Schulweg am Judenfriedhof Steinrain vorbeigeführt: „Erstaunlich eigentlich, dass dieses Denkmal niemals ein Gesprächsthema unter uns Schülern war.“ Als er auf Fotos von der Einweihungsfeier 1947 seinen Opa entdeckt, will er der Sache nachgehen.
Auch Aiwanger, ein Jahr älter als Serlitzky, muss täglich auf dem Schulweg am Judenfriedhof Steinrain vorbeigekommen sein, er kam aus der gleichen Richtung. Aber nur geografisch. Anscheinend hat der Friedhof bei ihm andere Gefühle ausgelöst.
Wenn Aiwanger jetzt von einer „Schmutzkampagne“ spricht, heißt das nichts anderes, als dass er den Spieß umdreht und jede Verantwortung von sich weist. Das Flugblatt war eine Schmutzkampagne. Das Andenken der Ermordeten sollte beschmutzt werden. Die Frage, ob der heutige Vizeministerpräsident der Urheber dieser Schmutzkampagne war, ist durch Aiwangers Antworten alles andere als ausgeräumt. Sie lesen sich wie die Ausreden eines Schülers.
„Heilig sei das Andenken des unschuldig vergossenen Blutes“, heißt es beschwörend am Judenfriedhof Steinrain in Stein gemeißelt. Darauf pfeifen wir, sagt das Hetzflugblatt. (Florian Sendtner)
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