Es ist eine erschreckende Statistik: Selbstmord ist bei jungen Menschen die zweithäufigste Todesursache. Warum entschließen sie sich zum Äußersten? Die Staatszeitung hat Jugendliche in der Münchner Heckscher-Klinik besucht. Dort versuchen sie gemeinsam mit Psychiatern und Therapeuten, Wege aus der Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Traurigkeit zu finden.
Es ist lange nach Mitternacht, als das Mädchen in einer schmalen Gasse im Allgäu eine Flasche gegen die Wand knallt. Es greift nach einer Scherbe und schneidet sich zuerst die eine und dann die andere Pulsader auf. Das Mädchen, das hier Janina heißen soll, ist 14 Jahre alt, als es zum ersten Mal versucht, sich umzubringen. Es hat sein Leben noch vor sich – und will es schon beenden.
Suizid ist bei Jugendlichen nach Unfällen die zweithäufigste Todesursache. 2010 nahmen sich in Deutschland 217 junge Menschen unter 20 Jahren das Leben. Warum entschließen sich Mädchen und Buben zum Äußersten? Wie können sie so verzweifelt sein? Die Auslöser für einen Selbstmord können ganz unterschiedlich sein. Manchmal sind es Konflikte mit den Eltern, Schwierigkeiten in der Schule, Liebeskummer, Misshandlungen oder der Verlust eines Menschen. Besonders gefährdet sind auch Jugendliche mit einer homosexuellen Orientierung – Ängste und auch Erfahrungen mit negativen Reaktionen aus dem Umfeld, lassen sie verzweifeln. Doch nicht immer werden jugendliche Krisen ernst genommen.
Janina wird gefunden und in ein Krankenhaus gebracht. Man näht ihre Wunden und schickt sie nach Hause. Dass das Mädchen krank ist, sieht niemand. Nach seiner Geschichte fragt keiner. Janina wolle nur Aufmerksamkeit, sagen die Verwandten. Erst Monate später wird Janina einer Psychologin von ihrer schwierigen Beziehung zu ihren Eltern erzählen, vom plötzlichen Tod ihres Freundes und von ihrem Onkel, der sie misshandelt hat.
Die Gründe sind so verschieden wie die Jugendlichen selbst
Wie kaputt junge Seelen sein können, weiß Adelina Mannhart. Sie ist Psychiaterin in der Münchner Heckscher-Klinik, Deutschlands größter Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ein Ort mit viel Glas und Holz, ein helles Gebäude, das eher an eine Schule erinnert als an eine psychiatrische Anstalt. Die Ärzte tragen keine Kittel. Das soll sie nahbarer machen.
Mannhart wirkt herzlich und doch bestimmt. Als Oberärztin leitet sie die Jugendakutstation der Klinik. Rund 500 Patienten im Alter von 14 bis 17 Jahren behandelt ihr Team im Jahr, doppelt so viele wie noch 2001. Das sei vor allem wegen der höheren Inanspruchnahme, weil Menschen schneller Hilfe suchen. Etwa drei Viertel der Patienten wollten nicht mehr leben. Die Gründe dafür, sagt die Ärztin, seien so verschieden wie die Jugendlichen selbst.
Markus hat eine schmächtige Figur und einen melancholischen Ausdruck. Er trägt Jeans und ein Sweatshirt im selben Blau seiner Augen. Sie blicken traurig und unsicher aus dem Fenster und auf seine Hände. Adelina Mannhart sieht der 15-Jährige nur sekundenweise an. Trotzdem wirkt Markus gefasst. Im Tonfall eines Mediziners, der eine Patientenakte referiert, erzählt er von seinen letzten Wochen.
Er streite oft mit seiner Mutter, dabei hasse er Streit. Von Schule und Führerschein ist er überfordert, dann bricht er sich ein Bein und kann den ganzen Winter nicht in die geliebten Berge. Schließlich trennt sich seine Freundin von ihm. Dass er nachts nicht schlafen kann, dass er viel weint und oft gar nichts spürt, erzählt er niemandem. „Ich wollte keine Last sein“, sagt er . „Du scheinst es Menschen Recht machen zu wollen“, meint Mannhart und Markus nickt, fast so, als wolle er sich dafür entschuldigen.
„Ich versuchte die ganze Zeit, mir einzureden, dass alles gut wird.“ Aber das wird es nicht. Erst erwägt er zu gehen, ins Ausland, wo ihn keiner kennt. Dann, nicht mehr zu leben. Zwei Wochen lang überlegt er: Soll er? Kann er? Wie? An einem Samstag geht er zu einem S-Bahnhof. Vier Stunden sitzt er dort: „Ich wollte nachts springen, wenn mich keiner sehen kann.“ Eine Freundin findet ihn am Bahnsteig, sie alarmiert die Polizei. Die bringt den Jungen in die Heckscher-Klinik.
„Ich wollte nachts springen, wenn mich keiner sieht“
Markus zupft verlegen an seiner Nagelhaut. „Ich bin froh, dass ich noch hier bin.“ Hier, das ist die geschlossene Station. Ein Ort, an dem die Fenster nur einen Spalt weit aufgehen. Nur mit einem Chip lässt sich die Tür öffnen. Teller und Becher sind aus unzerbrechlichem Plastik. Die Betreuer zählen das Besteck vor und nach jedem Essen ab, sie filzen alle Zimmer, sobald eine Gabel fehlt oder ein Messer. Im Zimmer der Helfer hängt die „Gürtelliste“. Auf ihr sind alle Patienten notiert, die Gürtel tragen. Abends müssen sie abgegeben werden. So schützen die Betreuer die Jugendlichen vor sich selbst.
Was kann eine solche Station, was die Psychiatrie? „Wichtig ist, dass man mit dem Jugendlichen und seinen Angehörigen das Problem versteht“, sagt Mannhart. Was belastet den Patienten? In Gesprächen, mit Hilfe von Musik, Kunst oder Sport versuchen die Therapeuten, die Probleme zu lindern oder gar zu lösen. Einige bekommen Psychopharmaka. Kurzfristig zur Beruhigung, langfristig bei psychotischen Störungen wie einer Schizophrenie.
Auch der strenge Alltag auf der Station hilft den Patienten. Er gibt Halt. Gut ist, sagt Markus, dass er Menschen kennenlernt, die wissen, wie er sich fühlt: „Die haben das Ganze auch schon hinter sich.“
Markus trifft auf Sarah. 14 Jahre ist sie alt, sieht aus wie 17. Sie wirkt quirlig und vergnügt. Ihre Mutter ist nach einem Unfall gestorben, ihren Vater hat sie noch nie gesehen. Eine Freundin der Mutter nahm sie auf, doch die beiden verstanden sich nicht. „Ich war ihr zu anstrengend. Sie wollte mich nicht.“
Manchmal, erzählt Sarah, habe sie „Ausraster“. Dann wird sie aggressiv, dann muss sie wegrennen. Ein solcher Ausraster führte sie zum Medizinschrank und dazu, Tabletten zu schlucken. Sarah erzählt heiter. „Das ist ihr Weg, mit ihrem Schmerz umzugehen“, erklärt Mannhart. Ihre Ausraster seien Ausbrüche ihrer Verzweiflung, die sie mit ihrer offenen Art kaschiert.
Janinas letzter Suizidversuch war erst vor ein paar Tagen
Markus hat gezeigt, was die Ärzte das Präsuizidale Syndrom nennen. Er hat sich zurückgezogen, lange überlegt und eine bewusste Entscheidung getroffen. Sarah handelte aus einer „Kurzschlussreaktion“ heraus – und tat etwas, womit weder sie noch ihr Umfeld gerechnet hätten. Beide besaßen offenbar nicht ausreichend innere Stärke, um ihre Schicksalsschläge zu verkraften. Resilienz nennen die Psychologen diese Fähigkeit, Belastungen zu widerstehen. Ob der Teenager in einem behüteten Umfeld aufgewachsen ist, mit guten sozialen Kontakten. Ob er geliebt wurde. Ob die Eltern psychisch stabil sind. All das beeinflusst, wie er verarbeitet, was auch immer ihm zustößt.
Auf der Station lebt auch Janina. Ihr letzter Suizidversuch ist erst ein paar Tage her. Sie ist in die Küche geschlichen, hat sich ein Glas der Betreuer geholt und es zerbrochen. Dann hat sie begonnen, die Scherben zu schlucken. Wenn sie spricht, knetet sie mit ihrer linken Hand die Rechte. An ihren Armen sind vernarbte Schnittwunden zu sehen.
Diffus erzählt Janina ihre Geschichte, viele Lücken, viele Unsicherheiten. Klar berichtet sie nur von ihren Flashbacks. Minutenlang können die Erinnerungen sie quälen, sie versetzen sie zurück in ihr Heimatdorf, zu ihrem Onkel, den Misshandlungen: „Sie kommen einfach über mich und dann ist es, als würde mir alles wieder passieren.“ Das Leid, das sie immer wieder spürt, will sie nicht aushalten. Ihre Suizidversuche sind meist eine Reaktion auf die Flashbacks. Es gibt Tricks damit umzugehen, beruhigt die Ärztin. Man könne lernen, den Flashbacks auszuweichen. „Das“, sagt das Mädchen leise, „wäre schön.“
Markus will Wege finden, mit Stress und Traurigkeit umzugehen, will lernen, nein zu sagen. Die geschlossene Station wird er bald verlassen und mit den Ärzten Strategien entwickeln, nicht erneut in eine Depression zu fallen.
Sarah braucht ein Zuhause, einen Ort, an dem sie willkommen ist. Dann, ganz langsam, kann eine Therapie beginnen, die sie ihren Schmerz aufarbeiten und verarbeiten lässt.
Werden auch Janinas seelische Wunden verheilen? „Sie kann wieder gesund werden“, sagt Mannhart. „Aber sie braucht viel Zeit.“ Eine lange stationäre Behandlung, intensive Betreuung. „In ihrem jungen Leben lassen sich noch viele Weichen stellen.“ Viel leichter als in der Erwachsenenpsychiatrie können die Ärzte ihren jungen Patienten noch Entwicklungsimpulse geben. Es ist noch nicht zu spät, sagen sie den Jugendlichen – und auch sich selbst.
(Gesa Borgeest)
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