Leben in Bayern

Wer niemanden zum Sprechen hat, wird sich vielleicht über eine Aktion freuen, die Mitte September in vielen bayerischen Orten anläuft. (Foto: dpa/Fabian Sommer)

15.09.2023

Der Einsamkeit entrinnen

In Bayern startet eine bislang einmalige Selbsthilfeaktion, die alleinlebenden Menschen helfen will

Da sitzt man alleine daheim auf dem Sofa und das Kopfkino geht los. Trostlose Gedanken stellen sich ein. Doch niemand ist zum Reden da. „In unserer Beratungsarbeit hat das Thema Einsamkeit eine größere Relevanz bekommen“, sagt Theresa Keidel von der Netzwerkstelle „Selbsthilfekoordination Bayern“ (SeKo). Das war auch der Grund für eine Aktion, die jetzt an 17 bayerischen Standorten stattfinden soll. Unter dem Motto „Walk & Talk“ treffen sich einsame Menschen jeden Alters zum gemeinsamen Spaziergang.

„Wir wollen einsamen Menschen eine geschützte Möglichkeit bieten, sich auszutauschen“, erklärt Theresa Keidel. „Geschützt“ meint: Niemand muss sich fürchten, dumm angemacht zu werden. Vor allem Frauen nicht. Denn die ersten, kostenlosen Walk & Talk-Treffen werden von Profis aus der bayerischen Selbsthilfeszene begleitet. SeKo hat für die ungewöhnliche Kampagne keine Zielgröße definiert, wobei sich Theresa Keidel vorstellen könnte, dass das Angebot zumindest in größeren Städten auf starke Resonanz stoßen wird. „Noch ehe wir die Aktion beworben haben, hatten wir sechs Anmeldungen“, sagt sie. Darum wäre sie nicht überrascht, kämen am 21. September, dem ersten Würzburger Walk & Talk-Termin, bis zu 40 Männer und Frauen: „Dann würden wir zwei Gruppen bilden.“

Los geht es am 18. September

Das gilt auch für die anderen Treffs – die alle rund um diesen Tag beginnen. Den Auftakt bildet Schweinfurt am 18. September. In Hersbruck geht es am 25. September los. In die Walk & Talk-Treffs haben die Selbsthilfeprofis aus Bayern viel Zeit investiert. „Wir haben für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer verschiedene Fragen vorbereitet“, erklärt Ermina Kadic, Leiterin der „Kontakt- und Informationsstelle Selbsthilfegruppen“ (KISS) im Nürnberger Land.

„Wie läuft bei dir ein ganz normaler Tag ab?“, lautet eine der Fragen. „Welche Orte magst du in unserer Stadt am liebsten?“, heißt eine andere. In Würzburg sollen sich die Teilnehmer*innen zu Beginn des Spaziergangs in Zweierteams zusammenfinden. Die Fragen stehen auf Kärtchen. Nach 20 Minuten ertönt ein akustisches Signal, etwa von einem Gong, dann sollen sich neue Zweierpaare finden.

Ermina Kadic macht darauf aufmerksam, dass soziale Isolation eine verborgene Gefahr für die Gesundheit darstellen kann. „Es ist erwiesen, dass Einsamkeit oft massive Auswirkungen auf die Psyche hat“, sagt sie. Sogar körperliche Beschwerden könnten aus Einsamkeit resultieren. Für Außenstehende ist es oft gar nicht begreiflich, wie Menschen derart isoliert leben können: „Es gäbe ja genug Angebote, die man wahrnehmen könnte.“ Vereine zum Beispiel sind dankbar für jeden, der sich ehrenamtlich engagiert: „Doch die Hemmschwelle, sich einem Verein anzuschließen, kann riesengroß sein.“ Aus Angst, eventuell nicht integriert zu werden, bleibt man lieber zu Hause.

Einsamkeit ist keine Erkrankung mit einer typischen Symptomatik wie etwa eine Depression. Wobei depressive Menschen nicht selten einsam sind. In jeder größeren Stadt in Bayern gibt es Selbsthilfegruppen für Männer und Frauen, die an Depressionen oder anderen seelischen Erkrankungen leiden. Ganz nebenbei wird bei den Walk & Talk-Treffs darauf aufmerksam gemacht.

In Würzburg geschieht dies zum Beispiel am Ende des vierten Spaziergangs. „Danach wird es ein Abschlusstreffen im Würzburger Selbsthilfehaus geben“, berichtet Theresa Keidel. Bei einer Tasse Tee stellt sich die Selbsthilfekontaktstelle vor. Die Teilnehmenden können Feedback-Bögen ausfüllen. Das Abschlusstreffen dreht sich nicht zuletzt um die Frage, wie es mit dem Projekt vor Ort weitergehen könnte. Zu diesem Zeitpunkt wird es schon Ende Oktober und also ziemlich kalt und dunkel sein. Will die Gruppe dennoch weiter miteinander spazieren gehen? Will man sich überhaupt weiterhin treffen?

Anstoß zur Gründung richtiger Selbsthilfegruppen

„Unserem Konzept zufolge sollen nach den ersten begleiteten Treffs eigenständige Selbsthilfegruppen entstehen“, sagt Ermina Kadic. Wie die gestaltet werden, hänge von den Mitgliedern in spe ab. Sollten die finden, dass es im Winter zu kalt ist, um eine Stunde gemeinsam spazieren zu gehen, könnte man sich auch drinnen treffen.

Beim dritten Termin will Ermina Kadic besprechen, ob sich jemand findet, der fortan die Verantwortung für die Walk & Talk-Treffs übernimmt. „Zu unseren Aufgaben gehört es auch, die Angst vor einer Gruppenleitung zu nehmen“, sagt die KISS-Leiterin. Vor allem die Walk & Talk-Treffs seien unaufwendig: „Die Gruppe braucht nicht unbedingt Räume, niemand muss sich also um einen Schlüssel kümmern.“

Ermina Kadic verbindet mit der ungewöhnlichen Aktion die Hoffnung, Menschen auf Selbsthilfe aufmerksam machen und Vorurteile ausräumen zu können. „Viele Leute glauben, dass Selbsthilfe nur etwas ist, wenn man suchtkrank ist oder wenn man spezielle körperliche Leiden hat“, sagt sie. Dabei gebe es viele Selbsthilfegruppen, die sich um soziale Probleme drehen. In Mittelfranken existiert zum Beispiel eine Gruppe für alleinerziehende Männer und Frauen. Auch schlossen sich Angehörige von demenzkranken Senior*innen, die im Pflegeheim leben, zusammen. Ein „Arabischer Frauentreff“ ist ebenfalls an KISS angedockt.

Bei den Walk & Talk-Treffs wurde laut Theresa Keidel bewusst auf das Etikett „einsam“ im Projektnamen verzichtet: „Wir wollten Stigmatisierungen verhindern.“ Das Konzept, für das Theresa Keidel federführend mitverantwortlich ist, ist nach ihren Worten bayernweit einmalig. Besonders sind die vorbereiteten Fragen für die Teilnehmer*innen. Die Gespräche sollen möglichst nicht in Small Talk abdriften.

Wer an der Aktion teilnimmt, wird ausdrücklich nicht als therapiebedürftig angesehen. „Menschen, die aufgrund ihrer Isolation sehr schwer belastet sind, werden vermutlich nicht kommen“, schätzt die Selbsthilfeaktivistin. Umgekehrt weiß Theresa Keidel von Therapeutinnen und Therapeuten in Würzburg, die ihre – nicht allzu schwer belasteten – Patienten auf den Walk & Talk-Treff hingewiesen haben. Willkommen sind im übrigen auch Neubürger*innen.

In Lohr am Main wird sich die erste Walk & Talk-Gruppe ebenfalls am 21. September treffen. Organisiert wird die Veranstaltung von Simone Hoffmann, Leiterin des vom Bayerischen Roten Kreuz getragenen Selbsthilfebüros im Landkreis Main-Spessart. Walk & Talk-Gruppen gibt es außerdem in Augsburg und Freilassing, in Füssen und in Kempten. Zudem wird in Landshut, Mindelheim, Mühldorf, München, Nürnberg, Schweinfurt, Traunstein, und Weiden gelaufen und geredet. In Hof organisiert Ulrike Beck-Iwens von der Selbsthilfekontaktstelle der Diakonie Hochfranken einen weiteren Treff. Los geht es am 21. September um 17.30 Uhr am Biergarten am Untreusee.

Angebot auch für junge Menschen

Ulrike Beck-Iwens würde sich sehr wünschen, dass auch junge Menschen auf die Initiative der bayerischen Selbsthilfeszene aufmerksam werden. Aus diesem Grund wird sie unter anderem an der Hochschule in Hof Werbung machen. Einsamkeit, weiß sie, kann auch ein Problem junger Menschen sein. Zum Beispiel, wenn ein junger Erwachsener zum Studium neu in eine Stadt gezogen ist. Die Hofer Walk & Talk-Treffen sollen deshalb Studierenden Möglichkeiten eröffnen, Alteingesessene kennenzulernen. Wobei noch etwas anderes im Fokus der Leiterin der Selbsthilfekontaktstelle steht. „Junge Menschen werden in der Selbsthilfe dringend gebraucht“, sagt sie. Im besten Fall, so Ulrike Beck-Iwens, bekommen junge Leute durch die Treffs Geschmack an Selbsthilfe an sich: „Oder einem andern freiwilligen sozialen Engagement.“ (Pat Christ)
 

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