In Deutschland sind erstmals Bartgeier ausgewildert worden. Der 42-jährige Toni Wegscheider leitet das Auswilderungsprojekt im Nationalpark Berchtesgaden. Bereits als Zehnjähriger erklärte er die ungewöhnlichen Vögel, die riesige Knochen schlucken können, zu seinen Lieblingstieren. Obwohl es sie in Bayern damals schon längst nicht mehr gab.
„Entgangener Anruf“ ... „entgangener Anruf“ ... „entgangener Anruf“ ... Als Toni Wegscheider am 8. Juli gegen 6.30 Uhr sein Mobiltelefon anschaltet, erschrickt er und denkt: Da ist irgendwas mit den Geiern. Erst dann sieht er die Textnachricht: „Bavaria fliegt.“ Was in diesen beiden Worten steckt, kann man durchaus als historischen Moment im deutschen Artenschutz bezeichnen. Denn Bavaria ist eines der beiden Bartgeierweibchen, die im Juni im Nationalpark Berchtesgaden ausgewildert worden sind – und damit der erste dieser Greifvögel, der seit ihrer Ausrottung im Alpenraum im Jahr 1913 in der deutschen Wildnis flügge wurde. Es ist 5.19 Uhr, als der Vogel abhebt.
Wegscheider leitet das Auswilderungsprojekt des Landesbunds für Vogelschutz (LBV), die Nachricht hat er vom Praktikanten des Nationalparks bekommen, der an diesem Morgen Frühschicht am Beobachtungsposten hat und als Einziger Zeuge dieses besonderen Augenblicks wurde. Bavaria sitzt nach ihrem Jungfernflug wohlbehalten auf einem Felsen. Nur: Auch wenn Bavaria jetzt fliegen kann, die zielgenaue Landung hat sie noch nicht drauf. So schafft sie es an diesem Tag nicht mehr, zu ihrer Kollegin Wally in die Felsnische zurückzukehren, muss schließlich auf einem Felsen übernachten. In einer Steinschlagrinne. Bei heftigem Gewitter.
Über sein Handy kann er sogar die Vitalfunktionen der Tiere überwachen
Wegscheider sitzt währenddessen unruhig daheim auf dem Sofa, aktualisiert über sein Mobiltelefon ständig die Daten, die der Sender schickt, den Bavaria an einem Gurt um die Hüfte trägt. Sogar die Vitalfunktionen kann er auf diese Weise überwachen. Der Biologe fürchtet, dass jeden Moment die Temperatur massiv sinkt, weil Bavaria von einem Stein oder einem Blitz erschlagen wurde. Aber die Temperatur bleibt stabil. Am nächsten Morgen meldet die Frühschicht: Bavaria ist pudelnass, aber es geht ihr gut. „Das war ein dramatischer Start in den Luftraum“, sagt Wegscheider.
Gut zwei Wochen später, Treffpunkt Klausbachhaus, gleich am Eingang des Nationalparks. Neben imposanten Aussichten bietet der Nationalpark Berchtesgaden auch eine vielfältige Alpenfauna. Steinadler, Steinböcke, Gämsen und Murmeltiere gibt es genauso wie besondere Falter und Spinnen. Und jetzt ist auch noch der Bartgeier da. Während der Steinadler 2,30 Meter Flügelspannweite misst, kommt der Bartgeier dagegen auf stolze 2,90 Meter, er ist inzwischen wieder der größte Vogel in den Alpen. Bavaria dürfte da schon ziemlich gut rankommen, meint Wegscheider, Wally ist etwas kleiner, vielleicht 2,80 Meter. „Ich find’ das immer noch faszinierend, wie gewaltig die sind.“
Wegscheider ist in der Gegend aufgewachsen, auf einem Bauernhof oberhalb des Königssees. „In der vierten Klasse hab ich in Heimat- und Sachkunde mein Lieblingstier vorgestellt. Und das war der Lämmergeier, wie man ihn damals noch nannte.“ Kein gewöhnliches Lieblingstier für einen Zehnjährigen – erst recht, wenn man bedenkt, dass es zu dieser Zeit schon lange keine Bartgeier mehr in der Gegend gab. Aber der kleine Toni hatte ein Tierbuch mit Zeichnungen von Bartgeiern aus den Pyrenäen, wo sich eine Population gehalten hatte. Die hatten es ihm angetan. „Wie die Geier da diese riesigen Knochen geschluckt haben, das hat mich fasziniert.“
In der Tat sind Bartgeier so ziemlich die einzigen Wirbeltiere, die sich fast ausschließlich von Knochen ernähren. Eine recht trockene Angelegenheit, aber nahrhaft. Ein Oberschenkelknochen einer Gams, erklärt Wegscheider, habe mehr Kalorien als die Gamskeule drumherum. Beobachter sind immer wieder beeindruckt, wenn so ein Vogel einen 30 Zentimeter langen Knochen in einem Happs runterschlingt oder wenn er Gerippeteile aus großer Höhe zum Zerkleinern auf Felsen fallen lässt.
Dennoch wurde der Geier mit den unterschiedlichen Namen jahrhundertelang gejagt. „Vill Schaden der Gämbsgeyer thuet, drumb ihm man auch nachstöllet“, heißt es auf einem Gemälde aus dem 17. Jahrhundert, das in einer Gaststätte auf St. Bartholomä am Königssee hängt und den mangelnden Kenntnisstand von damals widerspiegelt. Lämmer schlage er, hieß es, daher der später lange gebräuchliche Name, sogar Babys habe er schon entführt.
Obwohl erklärtermaßen sein Lieblingstier, verlor Wegscheider den Bartgeier wieder aus den Augen – bis er zu Beginn seines Biologiestudiums in Berchtesgaden einen Vortrag des österreichischen Geier-Experten Michael Knollseisen hörte, der die Auswilderungen im Nationalpark Hohe Tauern betreute. Hinterher fragte Wegscheider, ob er bei dem Projekt nicht mithelfen könnte. So kam er zu seinem ersten Praktikum – und den ersten tatsächlichen Begegnungen mit Bartgeiern. „Seitdem war ich angefixt.“
Der Enthusiasmus hat sich gehalten. Als „Jackpot in der Biologenkarriere“ bezeichnet es der 42-Jährige, dass er nun dieses Projekt leiten darf. „Das hätte ich mir nie erträumt.“ In den vergangenen Wochen musste er viele Fragen zu den neuen Parkbewohnern beantworten, manche Frage sicher auch zwei-, drei- oder 87-mal. Aber noch immer erzählt er voller Begeisterung von Bavaria und Wally – etwa, was für unterschiedliche Charaktere die beiden sind. Bavaria mehr so die Behäbige, Wally dagegen quirlig, draufgängerisch und abenteuerlustig. Vor ein paar Tagen hat das Geiermädchen, das vier Tage nach Bavaria seinen ersten Flug absolvierte, sogar schon einen Adler gejagt.
Es ist Mittag. Nach etwa einer Dreiviertelstunde Aufstieg kommt Toni Wegscheider beim Beobachtungsposten an – auf rund 1100 Höhenmetern. Eine Gruppe von vier ehrenamtlichen Helfern des LBV ist bereits hier und schaut in die Felswand hinauf. Von fünf Uhr morgens bis neun Uhr abends halten die Ehrenamtlichen hier im Schichtbetrieb die Stellung. Eine Geierfreundin aus Passau, Silke Moll, verbringt ihren ganzen Jahresurlaub hier.
Wenn man weiß, wo, erkennt man in der Felswand die Nische, in der Wally und Bavaria am 10. Juni ausgesetzt wurden. Noch immer ist diese ein wichtiger Stützpunkt für sie. Etwas unterhalb am Hang legen die Helfer täglich Aas für die beiden aus. Meistens gibt es Gams.
Wegscheider baut das Stativ mit einem besonders starken Fernrohr auf. „Die Nische habe ich nach sehr langer Suche gefunden“, erzählt er. „Da passt wirklich alles. Das ist der Mercedes unter den Freilassungsnischen.“ Momentan jedoch ist nicht viel los in diesem Mercedes. Hinten in der Nische kann man durch das Fernrohr einen der Junggeier am Boden liegen sehen, der zweite ist hinter einem Felsbrocken mehr zu erahnen als zu sehen.
„Fliegen mit Stützrädern“: Noch sind die Bartgeier recht unelegant unterwegs
„Die sind platt“, sagt Gertraud Rieger vom LBV Berchtesgadener Land, „im wahrsten Sinne des Wortes.“ Und Moll erzählt, was man an diesem Morgen bereits verpasst hat. 20-mal, wenn nicht öfter, hätten die beiden ihre Runden am Himmel gedreht. Und die Flüge werden immer routinierter – auch wenn sie im Direktvergleich mit denen erwachsener Tiere immer noch unbeholfen wirkten, wie Wegscheider erzählt. Die Jungtiere hätten deutlich längere Federn und dadurch eine größere Flügelfläche, erklärt er. „Das ist wie Fliegen mit Stützrädern. Nicht elegant, aber sicher.“
Derzeit werden die beiden fast rund um die Uhr beobachtet – von den ehrenamtlichen Helfer*innen unterhalb der Felswand, aber auch von Tausenden Fans über zwei Webcams, die der LBV installiert hat. Doch schon in einigen Wochen dürften sich die Geierweibchen auf die große Wanderschaft machen und sich erst einmal die Welt ansehen. „Junge Bartgeier“, erklärt Toni Wegscheider, „fliegen locker Räume von 10 000 Quadratkilometern ab. Das ist der doppelte bayerische Alpenraum.“
Erst mit der Geschlechtsreife, so im Alter von fünf, sechs Jahren, zieht es rund zwei Drittel aller Bartgeier in die Heimatregion zurück. Es ist also gut möglich, dass zumindest einer der beiden ersten in Bayern ausgewilderten Bartgeier sich hier auch später ansiedelt. „Das muss jetzt nicht dieses Tal sein, aber so im Umkreis von 30 Kilometern um das Klausbachtal herum, das ist schon sehr wahrscheinlich.“ Und wenn er wetten müsste, wüsste Toni Wegscheider auch, auf wessen Rückkehr er setzen würde: auf die der eher zurückhaltenden und gemütlichen Bavaria. „Eine Bavaria darf ja wohl auch in der Heimat bleiben.“
(Dominik Baur)
Foto (Baur): Toni Wegscheider mit seinem besonders starken Fernrohr. Damit beobachtet er seine beiden Schützlinge.
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