Der Münchner Max Mannheimer überlebte die Vernichtungslager der Nazis. Seit einem Vierteljahrhundert warnt er an Bayerns Schulen vor den Gefahren des Totalitarismus. Seine Vorträge haben bei jungen Menschen viel bewirkt, ihm selbst halfen sie, seine Depressionen zu überwinden.
Im Garten von Max Mannheimer tauchen zwei Spatzen die Schnäbel ins Wasser einer kleinen Wanne. „Ich freue mich jetzt über solche Kleinigkeiten“, erzählt der Mann mit dem vollen, weißen Haar. Er sitzt unter dem Sonnenschirm seines Hauses nahe München. Mannheimer ist jetzt 91 Jahre alt, er hat ein Hüftgelenk aus Titan und zwei künstliche Knie. Aber er ist noch viel unterwegs. „Ich habe eine Aufgabe, die mich trägt“, sagt er.
Die Aufgabe, das ist seine Arbeit als Zeitzeuge. Mannheimer war in Auschwitz Häftling Nummer 99728 – das kurzärmelige Hemd gibt den Blick frei auf den linken Unterarm, der gezeichnet ist von diesen Ziffern. Vor 25 Jahren hat der Holocaust-Überlebende begonnen, Vorträge zu halten. Seither hat er vor Tausenden Schülern, Pädagogen, Polizisten, Richtern und anderen Interessierten gesprochen: über die Grauen der Konzentrationslager, über die Gefahren von Diktatur, Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit und über den hohen Wert der Demokratie. „Das letzte Drittel meines Lebens ist das interessanteste“, sagt er zufrieden.
Wo war Gott in Auschwitz?
Viele Jahre litt Mannheimer unter Depressionen. In den Nachkriegsjahren ging er fast täglich ins Kino, häufig sah er zwei Filme hintereinander. „Es war der einzige Ort, an dem ich abschalten konnte.“ Erst als er 1954 beginnt zu malen, eröffnet sich ihm ein Weg, das Erlittene zu verarbeiten.
Im Keller hängen noch die Lieblingswerke seiner dritten Frau Grace, die 2010 verstarb. Es sind abstrakte, farbenreiche Bilder, signiert mit seinem hebräischen Namen „ben jakov“ – der Sohn des Jakob. Aber mit der Malerei hat er inzwischen aufgehört. „Die Vorträge sind mir wichtiger.“
Von der Verfolgung zu erzählen, die Fragen nach den Erlebnissen in den KZ zu beantworten und den Zuhörern eine Botschaft der Verantwortung mitzugeben – das war für Mannheimer jahrelang eine Art Therapie. Inzwischen sieht er sich eher als Reisender in Sachen Humanität. Es war 1986, als er im Gymnasium Grafing erstmals vor Schülern sprach. Er stand das damals nur mithilfe von Beruhigungsmitteln durch.
Ein Vierteljahrhundert ist seither vergangen, zum 32. Mal ist er heute hier an seiner „Rekordschule“. Im großen Musiksaal herrscht Stille. „Habt ihr ein Mikro für den Urgroßvater?“, fragt er die rund 170 Neuntklässler und hat die Lacher auf seiner Seite. Zuvor hatte er die Stationen seiner Verfolgung durch die Nationalsozialisten mit Kreide auf die Tafel geschrieben – Ungarisch Brod, Theresienstadt, Auschwitz, Warschau, Dachau, Mühldorf-Mettenheim.
Nun spricht er über die Konferenz am Wannsee, wo eine Runde hochrangiger Nazis im Januar 1942 bei Cognac die Deportation der Juden in die Vernichtungslager organisierte. Und er berichtet, wie er an die Todesrampe von Auschwitz-Birkenau verfrachtet wurde, wo er in der Nacht zum 2. Februar 1943 die Eltern, die Schwester und seine erste Frau Eva das letzte Mal sieht – die SS hat sie vergast.
Kurze Zeit später ermordeten die Nazis auch die Brüder Erich und Ernst. Nur Max und sein Bruder Edgar überlebten. Mannheimer lässt Geschichte lebendig werden, ohne anzuklagen, ohne zu richten, ohne zu belehren. Er kann ruhig über das Geschehene reden, beantwortet mit Geduld und Nachsicht alle Fragen.
Er lobt den Mut jener, die damals in Berlin rund 1500 Juden versteckten, und das Engagement der Gegendemonstranten, die regelmäßig gegen Neonazi-Aufmärsche auf die Straße gehen. Seine Worte wirken. Die menschliche Wärme, mit der er einem begegnet, sein Humor, der die Bürde seines Schicksals erleichtert – sie berühren Schüler wie Erwachsene.
Inspiriert von einem Vortrag entwarfen Jugendliche ein Handbuch für Führungen durchs frühere KZ-Außenlager Mettenheim. Mal hinterfragen Schüler Opas Erzählungen aus der Wehrmachtzeit, mal begeben sie sich auf die Spuren jüdischen Lebens an ihrem Wohnort. Zwei Schülerinnen, die Mannheimer vor drei Jahren erlebten, schreiten seither beherzt ein, wenn angetrunkene Jungs auf Partys ausländerfeindliche Witze reißen.
Für sein Engagement ist der Erzähler wider das Vergessen vielfach geehrt worden. Am meisten freut ihn, dass der Bildungsbereich im internationalen Jugendgästehaus Dachau seit vergangenem Jahr Max-Mannheimer-Studienzentrum heißt. „Es ist ja direkt a Wunder“, entfährt es ihm unvermittelt während des Gesprächs im Garten. Er ist mit sich im Reinen und in Anbetracht seines Alters bei guter Gesundheit. Mannheimer spricht jetzt im etwas breit betonten, gemütlich klingenden Dialekt der Heimat seiner Kindheit, damals Mähren, heute Tschechische Republik.
Am 6. Februar 1920 erblickte er in Neutitschein als erstes von fünf Kindern einer Familie jüdischen Glaubens das Licht der Welt. Er war ein glückliches Kind, aber ein fauler Schüler, wie er in „Spätes Tagebuch“ schreibt, der Niederschrift seines Lebens bis 1945, die neben den Grauen der KZ auch seine Kindheit schildert. Beim ersten Vortrag in Grafing musste die Lehrerin die schlimmsten Passagen lesen, Mannheimer verließ den Raum, er hätte es nicht ertragen.
Heute trägt er vor, ohne ins aufgeschlagene Buch zu blicken. „Elektrisch geladener Stacheldraht. Nur berühren – aus. Tut nicht weh. Mein kleiner Bruder fragt: Willst du mich allein lassen?“ Bruder Edgar gab Max am ersten Tag in Auschwitz-Birkenau mit wenigen Worten den Lebenswillen zurück. Von da an kämpften die beiden wie Löwen füreinander. „Wären wir getrennt worden, es hätte kein gutes Ende genommen“, sagt Max Mannheimer.
Edgar arbeitete in Auschwitz als Schuster, konnte Schuhe gegen Brot tauschen und so nicht nur dem Bruder helfen. Gemeinsam wurden sie von Auschwitz nach Warschau überstellt, wo ein KZ entstand, um die Trümmer des niedergeschlagenen Aufstands im Getto zu beseitigen. In Mettenheim verschaffte Edgar dem Bruder einen Posten in der Kleiderkammer.
Es gibt einen einfühlsamen Film über Max Mannheimer, dem Regisseurin Carolin Otto den Namen Der weiße Rabe gegeben hat. Er zeigt den Protagonisten unter anderem, wie er 1991 erstmals nach Auschwitz zurückkehrt und zwischen den von hohem Gras umstandenen Häftlingsblöcken umhergeht. Damals sah Mannheimer zwei Jungen in einem Teich fischen, in den einst die Asche aus den Krematorien geschüttet worden war. „Ich habe zwar Auschwitz verlassen können, aber Auschwitz hat mich nie verlassen“, sagt er.
Auch nach Jahrzehnten kehren die Bilder aus der Hölle bisweilen zurück – wie 1981, als er während eines USA-Urlaubs bei einem Spaziergang ein Hakenkreuz entdeckt: Vergeblich versucht er mit einem Schraubenzieher stundenlang, das Nazi-Symbol aus dem Mauerwerk zu stemmen. Als er anschließend einige Tage in einer psychiatrischen Klinik behandelt wird, dreht er in der Dusche den Hahn nur ganz langsam auf; er wollte sichergehen, dass tatsächlich Wasser aus dem Duschkopf strömt.
Wo war Gott in Auschwitz? Diese Frage werde immer so stehen bleiben, weil es darauf keine Antwort gebe, sagte Mannheimer einmal während eines Vortrags. Er selbst zweifelte im täglichen Wahnsinn des Vernichtungslagers an der Existenz Gottes, trotzdem bedeckte er nach den überstandenen Torturen eines jeden Tages mit der Hand den Kopf und betete.
Auf 36 Kilo abgemagert
Am 30. April 1945 befreien US-Soldaten Mannheimer nahe des Starnberger Sees aus einem Güterwaggon – abgemagert auf 36 Kilogramm und gezeichnet von wochenlangem Typhus war der Gerettete kaum mehr bei Bewusstsein.
Nach der Genesung kehrten der Bruder und er nach Neutitschein zurück und schworen, Deutschland nie wieder zu betreten. Doch bald lernte Max Mannheimer Elfriede kennen, eine Deutsche, die während des Nazi-Terrors britischen Kriegsgefangenen Nachrichten der BBC zusteckte. Ihre Zivilcourage gab ihm den Glauben an eine Zukunft im Land seiner Peiniger wieder. Gegen den Rat des Bruders heiratete er die Nicht-Jüdin. Tochter Eva wurde noch in Neutitschein geboren, sie lag in den Windeln, als die junge Familie 1946 im Zug zurück nach Deutschland fuhr.
Nach der Rückkehr arbeitete Mannheimer zunächst für das Zentralkomitee der befreiten Juden, unter anderem nahm er Protokolle gegen Kriegsverbrecher auf. Anschließend war er für eine jüdische Wohlfahrtsorganisation aktiv; von 1962 bis 1983 folgten Posten als Verwaltungsangestellter in Münchner Firmen.
Seine Erinnerungen brachte er nach dem Krebstod seiner zweiten Frau 1964 zu Papier. Er war in eine schwere Lebenskrise geraten, fürchtete sich nach einer Kieferoperation selbst vor einer Krebsdiagnose. Todesangst diktierte, er schrieb alles im Stakkato nieder: Seine damals noch jugendliche Tochter Eva sollte als Erwachsene lesen können, wie es wirklich war. Doch der Vater erholte sich und die Erinnerungen rückten für mehr als 20 Jahre in den Hintergrund, ehe sie 1985 in den Dachauer Heften publiziert wurden.
Mannheimer blieb in Deutschland, aber er verkehrte nur in jüdischen Kreisen und mit sozialdemokratischen Freunden Elfriedes, die für die SPD im Münchner Stadtrat saß. Er hat sich damals aus Selbstschutz abgeschottet, wollte keinem ehemaligen Täter begegnen. Ohnehin hielt sich das Interesse am Leid der Opfer in Grenzen: Mit Beginn des Kalten Krieges kehrten viele ehemalige Nazis und ihre Handlanger wieder in hohe Ämter zurück. Im Jahr 2011 herrscht eine andere Situation. „Die Jugendlichen heutzutage wollen wissen, warum ihre Großeltern und Urgroßeltern einem Massenmörder so lange die Treue hielten“, sagt der Geschichtsvermittler. Das Interesse der Jugend am Holocaust sei ungebrochen.
Und die Vorträge gehen weiter. Täglich telefoniert er mit Tochter Eva und Sohn Ernst, den seine dritte Frau Grace ihm schenkte. Während des Gesprächs im Garten klingelt das Telefon, seine Galeristin teilt mit, im März sei mal wieder eine Ausstellung seiner Bilder geplant. Und Mannheimer möchte dabei sein, wenn in München nach jahrzehntelanger Diskussion bald ein Dokumentationszentrum über die Nazi-Zeit eröffnet wird.
Es gibt eine Szene in Der weiße Rabe, die ihn beim Besuch in Neutitschein zeigt. Da steht er im Bad seines Hotelzimmers vor dem Spiegel und lässt seine schlohweißen Haare vergnügt im Wind eines Föhns tanzen – ein alter Mann, der wie ein kleines Kind erfüllt von Lebensfreude leise summt. Über all die Jahrzehnte hat Mannheimer geschafft, sich das zu bewahren. Trotz allem.
(Robert Zsolnay)
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