Leben in Bayern

In Gerald Wieners Laden scheint die Welt stillzustehen. Er verkauft und repariert dort analoge Kameras. Fotos: Stumberger

19.01.2023

Die analogen Franzosen von München

Gerard Wiener und Gérard Pleynet haben sich der klassischen Fotografie verschrieben – und liegen damit voll im Trend

Manchmal brauchen die Dinge Jahrzehnte, bis sie ihren Platz und ihre Ordnung gefunden haben. Wie zum Beispiel im Laden in der Münchner Landwehrstraße 12. Wer ihn durch die Türe mit dem Bimmelton betritt, gelangt mit einem Schritt in eine andere Welt. In die der analogen Kameras aus den vergangenen 100 Jahren. Da liegen sie in Holzregalen, all die Leicas, Minoltas, Hasselblads, Nikons und wie sie alle heißen mögen.

Und zwischen vielen kleinsten Schraubenziehern und filigranen Pinselchen auf dem Arbeitstisch, zwischen einer kleinen Drehbank und mehreren Oszillatoren, zwischen Schräubchen und Vergrößerungslupen ist noch Platz für einen Stuhl. Auf ihm sitzt Gerard Wiener mit weißem Haar und repariert die alten Fotoapparate. Und das seit 50 Jahren. Er selbst ist 84. Und „ja“, sagt er, „die junge Generation hat wieder Interesse an der analogen Fotografie“.

Gerade ist er dabei, eine alte Zeiss Ikon für den Kunden zu verpacken. „Das war eine Generalüberholung“, erläutert Wiener. Das heißt, Verschluss, Filmtransport und sonstige Mechanik überprüfen. Mechanik, das ist das Prinzip, nach dem diese Kameras funktionieren. Wo das Licht noch auf einen Film, eine lichtempfindliche Schicht, trifft und die Moleküle verändert. Und wo die Filmrollen noch mechanisch mit dem Daumen weiterbewegt werden.

Es ist das absolute Kontrastprogramm zur digitalen Fotografie. Langsamer, bewusster. Während er die Zeiss Ikon einpackt, spielt im Hintergrund das Radio einen französischen Sender. Denn Wiener ist gebürtiger Franzose, lernte in Paris das Handwerk der Feinmechanik. Als er mit 18 Jahren in den Algerienkrieg ziehen soll, machte er sich auf und davon nach Venezuela, blieb dort fünf Jahre. Anfang der 70er-Jahre kam er dann nach München und eröffnete seinen Laden. Ein Schwarz-Weiß-Foto an der Wand zeigt ihn in jüngeren Jahren, zusammen mit seiner israelischen Frau.

Wieder bimmelt die Tür, ein Kunde kommt herein. Er will seine reparierte Kamera abholen. „Gerne“, sagt Wiener, „wenn ich sie finde“, bückt sich und kramt in den Regalen herum. Wie lange will der 84-Jährige noch arbeiten? „Von mir aus bis 100, was soll ich zu Hause“, sagt er mit leichtem französischen Akzent. Gut, seine Frau meint „genug ist genug“. Aber „wohin mit all den Kameras“? Und Arbeit hat er genug, wo doch das Interesse an dieser Art Fotografie wieder wächst.

Die beiden Namensvettern kennen sich auch sehr gut

Szenenwechsel von der Stadtmitte an den Mittleren Ring im Süden der Stadt. Hier ist die Münchner Volkshochschule untergebracht und an diesem Dienstagabend ist im fünften Stock des Gebäudes Gérard Pleynet (kleines Foto) zugange. Wie es der Zufall will, hat der 69-Jährige den gleichen Vornamen wie Feinmechaniker Wiener aus der Landwehrstraße, ist auch Franzose – und gibt hier Kurse zur Technik der Entwicklung analoger Filme in der Dunkelkammer. Die beiden kennen sich, hatten viele Jahre lang Kontakt, haben oft zusammen in ihrer Muttersprache gequatscht, während im Hintergrund der Sender Europe 1 im Radio lief.

Als professioneller Fotograf arbeitet Pleynet mit Digitalkameras, wenn er für Unternehmen fotografiert; so entstehen die Bilder von Mitarbeiter*innen oder von Werkshallen. Als Dozent an der Volkshochschule und in seinen Kursen aber hat er sich vor allem der analogen Fotografie verschrieben. „Das ist eine andere Art zu fotografieren“, sagt er „der künstlerische Aspekt tritt in den Vordergrund.“

Der Unterschied zwischen dem digitalen Sensor und dem lichtempfindlichen analogen Film mache sich nicht nur technisch, sondern auch im Kopf des Fotografen bemerkbar: „Das ist eine andere Herangehensweise“, sagt Pleynet, ein irgendwie „unmittelbarer Kontakt“ mit dem Licht. Und er kommt auf Roland Barthes zu sprechen, dem großen Philosophen der Fotografie – übrigens auch ein Franzose. Der spricht von der Faszination durch das „Punktum“.

„Das Punktum ist ein oft kleines, zunächst unscheinbares fotografisches Detail, das auf subtile Weise das Unterbewusstsein des Betrachters des Fotos anspricht und letztlich seine Aufmerksamkeit auf sich zieht“, erklärt ein Lexikon. Vielleicht der Grund, warum uns alte Schwarz-Weiß-Fotografien manchmal in ihren Bann ziehen.

Roland Barthes verbrachte sein Leben (1915 bis 1980) fast ausschließlich in Frankreich, Gérard Pleynet kam in den 1980er-Jahren nach München. Er stammt aus St. Etienne, einer Stadt 100 Kilometer südwestlich von Lyon, und hat dort eine klassische Fotografenlehre absolviert; die Mutter kam übrigens aus dem Saarland.

Das Entwickeln der Filme ist für die Jungen sehr reizvoll

Der Grund, warum er nach München kam, war das hiesige Theaterengagement seiner Freundin, einer Schauspielerin – ursprünglich wollte das Paar nach New York. Dann kam das Töchterchen und Pleynet arbeitete von München aus für die französische Presse – man blieb in der weißblauen Landeshauptstadt.

Und wie erklärt sich das Interesse der jungen Generation an der alten analogen Fototechnik? Wir stehen in der Dunkelkammer der Volkshochschule, acht Arbeitsplätze gibt es hier. Links der Nassbereich, in dem die Entwicklerflüssigkeiten angesetzt werden, rechter Hand dann die Vergrößerungsgeräte.

Mit ihnen können verschiedene Filmformate vergrößert werden: Da gibt es das gängige Kleinbildformat mit 2,4 mal 3,6 Zentimeter (dem entspricht bei digitalen Kameras der sogenannte Vollformatsensor), dann das anspruchsvolle Mittelformat mit 6 mal 6 oder gar 6x9 Zentimeter und schließlich die fotografische Königsklasse – das Großformat. Hier haben die Negative Abmessungen ab 9 mal 12 Zentimeter. Damit wurde Anfang des 20. Jahrhunderts fast ausschließlich fotografiert, heute wird das Großformat noch bei Architekturaufnahmen eingesetzt. Klar, dass zu jedem Format eine eigene Kamera gehört.

Das Vergrößern der Negative ist noch trockene Arbeit, aber dann beginnt der chemische Prozess der Entwicklung der Papierabzüge. Und „das ist etwas, was die jungen Leute sehr reizt“, sagt Fotograf Pleynet. Wenn in der Entwicklerschale unter dem roten Schein des Dunkelkammerlichts langsam die Konturen des Bildes sichtbar werden und schließlich das vollständige Bild erscheint: „Das fasziniert die Teilnehmer.“

Für die Jüngeren, die nichts anderes kennen als die digitale Fotografie, ist das eine Art handwerklicher Tätigkeit: Man macht etwas mit den eigenen Händen und kann dann das Produkt ansehen. „Freilich“, sagt Pleynet, „sind die Materialien für die analoge Fotografie inzwischen sehr teuer.“ Wo man sich bei der Digitalkamera mit einer Speicherkarte begnügen kann, die sich auch viele Male überschreiben lässt, ist die analoge Fotografie eine aufwendige Angelegenheit: Man benötigt einen Film, der nur 36 Aufnahmen erlaubt; dieser muss entwickelt werden.

Der Vergrößerungsapparat kostet Geld, ebenso die Chemikalien für die Entwicklung der Papierabzüge und natürlich auch das Papier selbst. Das Analoge hat überlebt – in einer Nische für Enthusiast*innen, die man sich etwas kosten lassen muss. (Rudolf Stumberger)
 

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