„Es war wie zu Al Capones Zeiten“, berichtete der Wirt. Eine Gruppe von 20 bis 30 Männern war an einem Sonntagabend im Juni 1971 in sein Lokal eingefallen. Wie in einem Kriminalfilm besetzten die Gangster beide Ausgänge, blockierten das Telefon, fegten die Gläser von den Tischen und begannen wortlos, die Gäste und den Wirt mit Faustschlägen zu traktieren. Zwanzig Minuten nach dem Abmarsch erschien die Schlägerbande in einer anderen Kneipe. Fünf Männer zogen dem dortigen Wirt den Pullover übers Gesicht und schlugen mit Gummiknüppeln derart auf ihn ein, dass sein Blut an die Wand spritzte.
Solche Übergriffe häuften sich vor 50 Jahren in der boomenden Olympiastadt München. Das internationale Verbrechertum witterte Konjunktur. Bandenterror amerikanischen Stils griff um sich. Die Polizei hatte eine Sonderkommission gebildet. Faust im Nacken der Wirte, so überschrieb ich damals einen Bericht vom 23. Juni 1971. Seit Jahresbeginn hatte die Münchner Polizei bereits 14 Überfälle auf Banken, Postämter und Geldtransporte unter dem Stichwort „Hold up“ registriert. Ein Teil davon wurde einer Gruppe zugeschrieben, die sich nach südamerikanischem Vorbild „Tupamaros“ nannte und sich auf eine „Befreiungsideologie“ berief. Außerdem machten sich organisierte Kidnapper bemerkbar, die eine 17-jährige Millionärstochter entführten. Auch diese versuchten, gesellschaftspolitische Motive vorzuschieben.#
Münchner Wirte bezahlten Schutzgeld an Ganoven
In der aufblühenden, von Geldströmen beherrschten Stadt hat sich nackte Gewalt ausgebreitet. Die internationale Unterwelt etablierte sich hauptsächlich im Freizeit-Business. Der damalige Polizeipräsident Manfred Schreiber führte das auf den „Weltstadtcharakter“ der Millionen-Metropole zurück. Man müsse damit rechnen, warnte er, dass unter den rund 40 000 Zuzüglern pro Jahr mindestens 400 Ganoven seien – ein Kalkül, das spätere Sicherheitspolitiker wiederholen sollten.
Seit der Nachtclubkönig Albert Berger als Leiche aus dem Chiemsee geborgen worden war, spürten viele Münchner Gastwirte „die Faust im Nacken“ – so auch der Titel eines damaligen Kino-Hits. Anonyme Besucher oder Anrufer forderten sie zur Zahlung von „Schutzgeld“ auf, andernfalls werde „aufgeräumt“. Die übliche Rate lag bei einem Zehntel der Einnahmen, die den Gangstern offenbar nicht unbekannt waren. Mit Vorliebe suchten sich die bewaffneten Schläger als Geldquellen mehr oder weniger anrüchige Lokale.
Einer der ersten Anführer der Rollkommandos war der ehemalige Polizist und Boxmeister Gerd Hermann, der wegen allzu enger Connections mit Drogendealern und anderer Delikte gefeuert worden war. Unter seinen Opfern war auch ein Filmteam mit der Schauspielerin Gila von Weitershausen. Sieben Lokale zerschlug Karl Pregler, genannt „Metzgerkarli“. Vorwiegend in Spielsalons „arbeitete“ der persische Olympia-Ringer Iradj Houshmand, bekannt unter den Spitznamen „Al Canone“ und „Santana“.
Bankraub mit Geiselnahme: Das gab es vorher noch nie
Manche Gangs waren in schwarzes Leder gekleidet und mit Fahrradketten behängt. Andere waren schwerer bewaffnet. Im Bayerischen Wald fand die Polizei im Mercedes 600 eines Münchner Barbetreibers ein volles Waffenlager mit Hunderten Schuss Munition. Es stammte von einer achtköpfigen Bande, die von ihrem Münchner Hauptquartier aus hauptsächlich in Städten Ostbayerns ihr Unwesen trieb.
Angesichts der erstmals vernetzten Gewalt musste Polizeipräsident Schreiber seinen Lieblingsspruch „Mir san liberal, aber net bläd“ abwandeln: Gegenüber der wachsenden Kriminalität amerikanischen Musters sei man hierzulande „ein bisschen machtlos“, erklärte er. Wohl auch deshalb, weil seine städtische Polizei gerade in einer Strukturkrise steckte: Wegen der bevorstehenden Verstaatlichung waren 600 Planstellen unbesetzt, sodass 180 000 Einwohner*innen – besonders in Ostbayern – ohne Polizeischutz waren. Schreiber, der bald darauf die SPD verließ, hielt das neue Phänomen für ein Problem der Gesellschaft – und erklärte mir im Juni 1971, „dass in unserem Land der Liberalisierungsbedarf nun gedeckt ist“.
Und es kamen neue Gewalt-Phänomene hinzu: Der erste Banküberfall mit Geiselnahme in Deutschland fand am 24. August 1971 in München statt. Mit Sturzhelm, Motorradbrille, maskiert mit schwarzem Tuch – so stürmten zwei Männer die Filiale der Deutschen Bank in der Prinzregentenstraße. Mit einer Maschinenpistole und einem Revolver hielten sie 18 Angestellte und Kunden in Schach. Vom Kassierer ließen sie telefonisch ans Polizeipräsidium melden, es handle sich um eine Besetzung durch eine „schwer bewaffnete Gruppe der Roten Front“. Bis 22 Uhr müssten zwei Millionen Mark und ein Auto bereitgestellt sein, andernfalls trete die „Vergeltungsaktion Elend“ in Kraft.
Tatsächlich explodierte „zur Demonstration“ an einer Straßenbahnoberleitung eine Sprengladung „mit reduzierter Wirkung“. Polizei, Staatsanwaltschaft und Sicherheitspolitiker standen vor einer bisher nur aus dem Ausland bekannten Situation. Sie beschlossen, im Interesse des Staates schnell und hart durchzugreifen. Zahlreiche Schaulustige, Medienvertreter und prominente Politiker, darunter Strauß und CSU-OB Kiesl, sicherten sich gewissermaßen Logenplätze im Gourmetlokal gegenüber der Bank: Sie erlebten die Deutschland-Premiere eines Krimis, der sich später noch oft wiederholen sollte. Der Bankkassierer brachte eine der Geiseln und den Sack mit dem Lösegeld ins Fluchtauto. Vorsichtig folgte einer der Gangster, der 31-jährige Hans Georg Rammelmayr. Als er einsteigen wollte, eröffnete die Polizei das Feuer. Der Sterbende schoss noch zurück, wobei drei Kugeln die 20-jährige Geisel Ingrid Reppel so schwer verletzten, dass sie auf dem OP-Tisch starb.
Der zweite Täter, der 23-jährige Dimitri Todorov, drückte seinen Revolver ab, traf aber nicht. Das Schwurgericht verhängte im Oktober 1972 – der Anschlag auf das israelische Olympia-Team lag nur fünf Wochen zurück – die Höchststrafe: Freiheitsentzug auf Lebenszeit. Wohl auch mit der Absicht, vor ähnlichen Straftaten abschrecken zu wollen – es geriet damit selbst aber in die Schusslinie vieler Kritiker. Fast 22 Jahre saß der überlebende „Geiselgangster“ in Straubing. Dort machte er das Abitur und begann, Romanistik und Geisteswissenschaften per Fernuniversität zu studieren. Am 25. März 1993 wurde Todorov entlassen und schrieb die Autobiographie eines Lebenslänglichen. Sie wurde verfilmt.
(Karl Stnkiewitz)
Kommentare (0)
Es sind noch keine Kommentare vorhanden!