Leben in Bayern

Viel Grün gibt es in der Fuggerei. Sie existiert seit 500 Jahren und gilt als älteste Sozialsiedlung der Welt. Foto: dpa/Stefan Puchner)

30.07.2021

Die Miete: 88 Cent im Jahr und drei Gebete

Die Augsburger Fuggerei, eine Sozialsiedlung für Bedürftige, gibt es seit 500 Jahren – die Warteliste für eine Wohnung wird immer länger

Sie wirkt wie ein Museum und manche Tourist*innen glauben, die Menschen in der Augsburger Fuggerei seien Statisten. Sind sie natürlich nicht. Es sind die Menschen, die hier leben. Menschen mit wenig Geld. Wie zum Beispiel die 70-jährige Christine Thoma, die sich mit einer Rente von 700 Euro in der Stadt keine Wohnung mehr leisten kann. Ein Besuch in der ältesten Sozialsiedlung der Welt.

Verschärfte Wohnungsnot und Hartz IV machen es möglich: Die Fuggerei in Augsburg lebt. Nicht als Museum einer Stiftung aus dem Spätmittelalter, sondern wie eh und je als Sozialsiedlung für bedürftige Menschen, die sonst nur schwer ein Dach über dem Kopf fänden. 500 Jahre wird die Siedlung nun alt und die Zahl der Bewerber*innen nimmt zu. Anlässlich des Jubiläums sollen nun Unternehmen und reiche Bürgerinnen und Bürger angeregt werden, ihrerseits Sozialsiedlungen zu stiften.

Die Jakoberstraße in der Augsburger Innenstadt ist gesäumt von kleinen Kneipen und Läden, an denen die Trambahn vorüberfährt. Bei der Hausnummer 26 allerdings führt ein Torbogen die Gäste in die Vergangenheit. Genauer gesagt in die durch eine Mauer abgeschlossene Wohnsiedlung aus dem Spätmittelalter. Wer einen Eintrittspreis von 6,50 Euro bezahlt, kann durch die Herrengasse, die Ochsengasse oder die Hintere Gasse schlendern und die kleinen Gärten hinter den einstöckigen, gelb gestrichenen Häusern mit den grünen Türen und den Klingelzügen besichtigen. An einer Gassenkreuzung sprudelt ein Brunnen, auf einem Fensterbrett rekeln sich Katzen in der Sonne und Efeu rankt an den Hauswänden empor. Autos gibt es keine und hie und da sitzen ältere Frauen im Schatten der Bäume. Manche Tourist*innen glauben, bei ihnen handele es sich um Statisten, die das Museum beleben sollen.

Doch die Fuggerei ist wie gesagt kein Museum, sondern soziale Realität: Heute wohnen hier an die 150 bedürftige Menschen, die sich wegen ihres geringen Einkommens auf dem normalen Mietmarkt sehr schwertäten. Zu ihnen gehört Christine Thoma, die 70-Jährige ist vor neun Jahren in die Fuggerei gezogen und wohnt heute in der Herrengasse. An die 60 Quadratmeter hat die Wohnung im ersten Stock: ein Wohnzimmer mit Küchenzeile, Bad, Schlafzimmer. Die Treppe nach oben ist etwas steil. Auf dem Sofa sitzen Plüschtiere, eine Wand ist rosa bemalt. „Ich fühle mich hier sehr wohl“, sagt die Augsburgerin.

Wie die anderen Bewohner*innen musste sie nach dem Stiftungsstatut drei Bedingungen erfüllen, um hier einziehen zu dürfen. In Augsburg wohnen, katholisch sein – und bedürftig. Letzteres heißt, kein Vermögen über 5000 Euro zu besitzen. Die meisten Einkommen liegen um die 900 Euro.

Thoma arbeitete zeitlebens in der Gastronomie, bis ihr klar wurde, dass sie eine Rente von 700 Euro zu erwarten hätte: „Da ist mir schwindlig geworden.“ Eine Wohnung hätte sie sich damit nicht mehr leisten können. Zwei Freundinnen brachten sie auf die Idee, sich bei der Fuggerei für eine Wohnung zu bewerben. Was nicht selbstverständlich war, denn früher galt die Fuggerei als „Asozialen-Siedlung“ mit geringstem Wohnstandard – heute aber haben alle Wohnungen Bäder. Thoma ging zum Sozialamt und ließ sich ihre finanziellen Verhältnisse bestätigen. Damit stellte sie einen Antrag bei der Stiftungsverwaltung.

Der ursprüngliche Stiftungszweck war, in Not geratenen Tagelöhnern ein Dach über dem Kopf zu geben. Die Kaufmannsfamilie Fugger war im 15. Jahrhundert durch Tuchhandel und andere Geschäfte enorm reich geworden. Stifter Jakob Fugger (1459 bis 1525) sorgte für sein Seelenheil, indem er den Bewohnern der Fuggerei statt einer Miete drei Gebete pro Tag für seine Familie auferlegte – im Laufe der Jahrhunderte ist so ein erkleckliches Gebetskonto zusammengekommen.

Bäder wurden erst 1973 in die Wohnungen eingebaut

Auch Christine Thoma erfüllt diese Pflicht: „Wenn ich nicht in die Kirche gehe, dann bete ich daheim.“ Ansonsten bezahlt sie einmal jährlich die symbolischen 88 Cent, hinzu kommen 90 Euro Nebenkosten und 130 Euro für die Heizung, auch der Strom kommt noch hinzu. In der Nachbarschaft ist sie aktiv, jeden Dienstag organisiert sie das Frühstück im Gemeinschaftstreff.

Warum wollen zu Beginn des 21. Jahrhunderts Menschen zu den Bedingungen wohnen, wie sie die Fuggerei anbietet? Immerhin gehört dazu auch, dass Touristen durch das Küchenfenster sehen. „Die Lage auf dem Wohnungsmarkt hat sich schon sehr verschärft“, sagt Stiftungssprecherin Astrid Gabler. Die Zahl der Bewerber*innen auf die rund fünf Wohnungen, die jährlich frei werden, habe sich in den vergangenen drei Jahren verdoppelt, momentan stehen 100 Augsburger*innen auf der Warteliste. Diese gibt Aufschluss über die gesellschaftlichen Verhältnisse: In den 1970er- und 1980er-Jahren waren die Bewerbungen rückläufig, angesichts des sozialen Wohnungsbaus waren die Fuggerei-Wohnungen mit Verpflichtung zum Gebet wenig attraktiv. So war der Fernsehempfang erst ab 1968 erlaubt – und nur, wenn die Antenne von außen nicht zu sehen war. 1973 wurden die ersten Bäder eingebaut, vorher gab es nur Toiletten und Waschgelegenheiten. Und erst ab 1974 durften auch Alleinstehende in die Wohnungen einziehen. Zuvor wurden nur ältere Ehepaare aufgenommen.

Jetzt haben sich die Zeiten wieder gewandelt: Die Verschärfungen für die Kriterien für eine Erwerbsunfähigkeitsrente etwa und schließlich Hartz IV ließen die Bewerberzahlen wieder ansteigen.
Heute leben nicht mehr nur alte Menschen in der Siedlung. Stand Juli 2019 zählte man 103 Alleinstehende, aber auch acht Familien und acht Paare. Die Hälfte der Bewohner sind 66 Jahre oder älter, aber es gibt auch sechs Kinder und fünf Jugendliche. Für alle gilt: Sie müssen mit sehr wenig Geld auskommen. „Sparen ist immer ein Thema“, lautet auch eine Aussage auf einer Tafel im kleinen Museum der Siedlung. Dass die Bewohnerinnen und Bewohner mit ihren sozialen Anliegen nicht alleine gelassen werden, dafür sorgen übrigens zwei angestellte Sozialpädagoginnen.

Eine kleine Kuriosität ließe sich noch anführen. Nach 22 Uhr werden die Tore zur Siedlung geschlossen, wer raus oder rein will, muss dem Nachtwärter 50 Cent zahlen, nach Mitternacht einen Euro. „Ich fühle mich beschützt“, sagt Bewohnerin Thoma dazu. Es ist wie bei den „Gated Communities“ (nicht für jeden zugängliche Stadtviertel) der Reichen, nur andersherum: Dort werden sie nicht hereingelassen, hier ohne Bezahlung nicht herausgelassen. Was früher wohl auch mit der Überwachung der Armen zu tun hatte.

Nach 500 Jahren Geschichte blickt die Stiftung – sie finanziert sich überwiegend durch Forstbesitz – anlässlich des Jubiläums in die Zukunft. „Next 500“ heißt ein einjähriges Veranstaltungsprogramm, das am 23. August seinen Anfang nimmt. Im Mittelpunkt steht die Idee, Unternehmen und Wohlhabende weltweit dazu anzuregen, eigene Fuggereien zu gründen. „Wohnungen statt Weltraumspaziergänge“, bringt Stiftungssprecherin Gabler das Anliegen auf den aktuellen Punkt. (Rudolf Stumberger)

Foto (Stumberger): Christine Thoma wohnt seit neun Jahren in der Fuggerei.

Kommentare (0)

Es sind noch keine Kommentare vorhanden!
Die Frage der Woche
Vergabeplattform
Vergabeplattform

Staatsanzeiger eServices
die Vergabeplattform für öffentliche
Ausschreibungen und Aufträge Ausschreiber Bewerber

Jahresbeilage 2024

Nächster Erscheinungstermin:
28. November 2025

Weitere Infos unter Tel. 089 / 29 01 42 54 /56
oder
per Mail an anzeigen@bsz.de

Download der aktuellen Ausgabe vom 29.11.2024 (PDF, 19 MB)

E-Paper
Unser Bayern

Die kunst- und kulturhistorische Beilage der Bayerischen Staatszeitung

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.