Seit einem Jahr besucht Daria eine Brückenklasse an einem Ingolstädter Gymnasium. Insgesamt 14 Schüler*innen seien sie, erzählt sie, und dass es Unterricht in den Fächern Deutsch, Englisch, Mathematik und Sport gebe. „Jeden Tag von 8 bis 13 Uhr.“ Das Interview mit der Zwölfjährigen findet mithilfe einer Dolmetscherin statt, Darias Deutschkenntnisse sind noch sehr begrenzt. „Ich mag Zahlen einfach lieber als Sprachen“, erklärt sie entschuldigend. Außerdem habe sie wenig Zeit zum Deutschlernen, weil sie nachmittags noch das Unterrichtsmaterial ihrer ukrainischen Schule bearbeite. „Da muss ich viele Prüfungen machen.“
Daria stammt aus Cherson, einer Stadt im Süden der Ukraine, die zu Beginn des Krieges mehrere Monate lang von russischen Truppen besetzt war. Sie ist mit ihrer Mutter und ihrem jüngeren Bruder geflohen, zurückgeblieben ist ihr Vater, der zwar nicht an der Front kämpft, aber bei der Versorgung der Zivilbevölkerung hilft, und den sie schrecklich vermisst.
Sie möchte zurück, sagt Daria, zu ihrem Vater, ihren Onkeln und Tanten, und sie möchte ihre Freundinnen wiedersehen. „Ich will, dass alles wieder so wird, wie es früher einmal war.“
Ob sie hier Freundinnen gefunden habe? Daria schüttelt den Kopf. „Eine vielleicht“, sagt sie dann doch. Es ist eine Mitschülerin aus der Brückenklasse. Außerhalb dieser Klasse aber hat sie überhaupt keinen Kontakt zu Gleichaltrigen, auch nicht zu anderen Schüler*innen an der Schule. „Die interessieren sich nicht für uns“, ist Daria überzeugt.
Die Schulen sehen es anders als das Ministerium
Mehr als 200.000 geflüchtete Kinder und Jugendliche aus der Ukraine besuchen in diesem Jahr deutsche Schulen, im Freistaat sind es laut bayerischem Kultusministerium 31.500 Schüler*innen. Es sei gelungen, so eine Ministeriumssprecherin, die Kinder und Jugendlichen durch eine gemeinsame Kraftanstrengung erfolgreich ins bayerische Schulsystem zu integrieren. Dies sei eine großartige und nicht selbstverständliche Leistung der ganzen Schulfamilie.
An den Schulen stellt sich die Situation jedoch anders da. Als der Bayerische Philologenverband vor einem Jahr rund 3000 Lehrkräfte an den Gymnasien und Beruflichen Oberschulen befragte, wie es um die Integration der ukrainischen Schulkinder bestellt sei, fiel das Urteil vernichtend aus. Mehr als die Hälfte der Befragten (54 Prozent) bewerteten die Integration als eher schlecht, 22 Prozent gar als eindeutig schlecht.
Im April dieses Jahres warnte der damalige Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, vor dem Scheitern der Integration geflüchteter ukrainischer Kinder und Jugendlicher. „Die Politik droht das Projekt einer gelungenen Integration der Schüler aus der Ukraine in den deutschen Schulen an die Wand zu fahren.“ An vielen Schulen gebe es zwar „ein bewundernswertes Engagement für die geflüchteten Kinder“, so Meidinger in der Stuttgarter Zeitung. „Doch die große Mehrheit der Bundesländer lässt die Schulen bei der Bewältigung dieser Aufgaben weitgehend im Stich.“
Es fehle Fachpersonal, aber es fehle auch an passgenauen regionalen Unterstützungsangeboten für die Schulen, ergänzt Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV). In den mehr als 800 Brückenklassen, die in Bayern an den Schulen eingerichtet wurden, würden mitnichten ausschließlich Fachkräfte mit Deutsch als Zweitsprache unterrichten, sondern auch Quereinsteiger. Zudem fehle es oftmals an geeigneten Räumlichkeiten. „Wenn eine Brückenklasse im Nebengebäude von einer unerfahrenen Berufsanfängerin unterrichtet wird, dann braucht man sich nicht wundern, wenn es mit der Integration nicht funktioniert“, so Fleischmann.
Dennoch: Sie bekämen auch positive Rückmeldungen zur Entwicklung der ukrainischen Schüler*innen, sagt die BLLV-Präsidentin. Stünde nämlich eine erfahrene Kraft vor der Klasse und würden die teils schwer traumatisierten Schüler*innen auch psychologisch aufgefangen, dann sehe die Sache ganz anders aus.
Bayern hat die Brückenklassen im vergangenen Schuljahr eingeführt. Diese Klassen gelten als schulartunabhängig und wurden für die Jahrgangsstufen 5 bis 9 an Mittel- und Realschulen sowie an Gymnasien angeboten.
Für Zehntklässler gibt es das gleiche Angebot an Berufsschulen. Möglich ist es, zumindest sieht das Konzept es vor, dass die Schüler*innen der Brückenklassen in einigen ausgewählten Fächern am Regelunterricht teilnehmen, damit sie, so die Ministeriumssprecherin, auch in Kontakt mit nichtukrainischen Kindern und Jugendlichen kommen.
Inwieweit dieses Konzept greift, ist unklar. Daria nimmt nur im Fach Sport am Regelunterricht teil. Ob das Konzept der Brückenklassen die Integration nun fördert, weil der Spracherwerb im Mittelpunkt steht, oder ob diese Klassen die Integration angesichts der Abtrennung der Kinder vom Regelunterricht eher behindern, ist unter Fachleuten umstritten.
Die Bundesländer agieren uneinheitlich. Nordrhein-Westfalen und Thüringen beispielsweise haben ukrainische Schüler*innen von Anfang an in den Regelunterricht eingegliedert, Sachsen hatte noch im vergangenen Schuljahr rein ukrainische Ankunftsklassen, die für dieses Schuljahr aber wieder abgeschafft wurden.
Hochmotivierte und Totalverweigerer
Der Ingolstädter Schulamtsdirektor Thomas Stur ist ein Befürworter der Brückenklassen. „Es bringt doch nichts“, sagt er, „wenn man ältere Schüler sechs Stunden lang in einen Regelunterricht setzt, von dem sie kein Wort verstehen.“ Doch auch er spricht von einer schwierigen Situation. Das Feedback, das er aus den Schulen mit Brückenklassen erhalte, sei sehr unterschiedlich und reiche „von sehr motivierten Schülern bis hin zu Totalverweigerern“.
Was die Integration angehe, sei vor allem der mangelnde Spracherwerb das größte Problem, wobei Stur durchaus Verständnis zeigt. „Wer mit seinen Gedanken beim Vater an der Front ist, für den ist deutsche Grammatik einfach nicht wichtig.“ Hinzu komme die unsichere Bleibeperspektive. „Auch das ist für die Motivation, die deutsche Sprache zu erlernen, nicht hilfreich.“
Gut findet Stur in diesem Zusammenhang die Neuerung im diesjährigen Schuljahr, den älteren ukrainischen Schüler*innen der Brückenklassen die Möglichkeit zu geben, eine Prüfung zum Deutschen Sprachdiplom (DSD) abzulegen. Es handelt sich dabei um ein international anerkanntes Zertifikat, mit dem die jungen Leute ihre Deutschkenntnisse nachweisen können.
Im Kultusministerium hofft man, dadurch die Lernbereitschaft zu erhöhen. „Durch das Hinwirken auf Abschlüsse auch in Brückenklassen erwarten wir uns eine Motivationssteigerung bei den ukrainischen Schülerinnen und Schülern“, so die Ministeriumssprecherin. Anders als die älteren Schüler*innen werden ukrainische Grundschulkinder in Bayern direkt in den Regelunterricht integriert. „Sprachbad“ nennt sich dieses Konzept, das ebenfalls nicht unumstritten ist.
„Wenn ich an einer Schule einen hohen Migrationsanteil habe, kann vom Sprachbad keine Rede mehr sein“, sagt Fleischmann, die deshalb ihre Forderung wiederholt, dass die Schulen regional und je nach Bedarf und Bedürfnissen unterstützt werden müssten.
Sprachbad hat funktioniert
Bei Sofiia zumindest hat das Sprachbad funktioniert. Die Zehnjährige geht seit einem Jahr auf eine Ingolstädter Schule und spricht bereits ausgezeichnet Deutsch. „Vielen Dank“, erwidert sie höflich auf das Kompliment, um dann aber sofort einzuschränken: „Beim Lesen habe ich noch Probleme, da muss ich viele Wörter nachschauen.“
Sofiia, die mit ihrer Mutter aus Charkiw geflohen ist, ist in ihrer Klasse die einzige Ukrainerin. Eine Lehrerin, erzählt sie, habe ihr am Anfang geholfen, sich zurechtzufinden. Außerdem hat sie gemeinsam mit ihrer Mutter deren abendlichen Sprachkurs besucht.
Auch Sofiia hatte zu Beginn Probleme, sich in der Klasse zurechtzufinden, erzählt die Mutter. „Aber“, wirft die Tochter ein, „jetzt habe ich schon zwei Freundinnen aus Deutschland.“ Und ihre Schule findet sie toll. Sofiia geht in die vierte Klasse und wird im kommenden Jahr auf eine weiterführende Schule wechseln. Vielleicht schafft sie den Übertritt aufs Gymnasium, wie sie sich das wünscht. „Wir warten die Noten ab“, sagt die Mutter.
Sicher ist aber, dass Sofiia in keine Brückenklasse kommen wird. Diese Klassen wird es nach den Plänen des Kultusministeriums im kommenden Schuljahr nicht mehr geben. Alle ukrainischen Schüler*innen sollen dann in den Regelunterricht wechseln. (Beatrice Oßberger)
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