Leben in Bayern

Rudolph Moshammer (Mitte) verkauft 1998 Seite an Seite mit den BISS-Verkäufern Burkard P. und Günter A. das Straßenblatt. (Foto: dpa)

24.08.2018

Ein Blatt mit Herz und Biss

Die Münchner Straßenzeitung „BISS“ wird 25 Jahre alt – sie war in Deutschland die erste ihrer Art

Sie war die erste Straßenzeitung Deutschlands. Am 17. Oktober 1993 erschien in München zum ersten Mal BISS – als Lobby und Sprachrohr für „Bürger In Sozialen Schwierigkeiten“. Und natürlich wird der 25. Geburtstag heuer gebührend gefeiert. Das ganze Jahr über. Mit Führungen zu Brennpunkten der Armut, offenem Singen, Konzerten und Kunstaktionen.

Als Herzstück der Jubiläumsfeiern ließ der Verein von britischen Künstlern und bayerischen Baufachleuten aus 1400 Holzteilen eine Skulptur schaffen, die dem Reiterdenkmal für Kurfürst Maximilian I. auf dem Wittelsbacher Platz wie eine große, teilweise transparente Krone übergestülpt wurde. Das Kunstwerk mit dem Titel I will be with you whatever (Ich werde stets bei dir sein) ist ein Geschenk an die Stadt für 25 Jahre treue Unterstützung und an die BISS-Verkäufer. Es will Betroffenen Mut machen und ihnen sagen, dass es jemanden gibt, der zu ihnen steht und ihnen hilft, egal was passiert.

Am 28. August wird es eine öffentliche Diskussion zur akuten Frage „wie man Wohnraum vor Spekulanten schützen kann und was die Politik für ein neues Bodenrecht tun muss“, geben. Engagement und Solidarität, Gelingen und auch Misserfolg der Straßenzeitung sind ein beispielhafter Beitrag zum anhaltenden Thema, wie die Wohnungsnot in Großstädten wenigstens gemildert und allgemein bewusst gemacht werden kann. Zur Zeit leben in München über 9000 Menschen ohne Obdach. Und private, persönliche Obdachlosenhilfe tut weiterhin not – auch wenn Ministerpräsident Markus Söder und Sozialministerin Kerstin Schreyer jetzt, zur Wahlkampfzeit, eine Verbesserung der staatlichen Hilfsangebote für Obdachlose in Aussicht gestellt haben. Beide Politiker versprachen dies bei einem Besuch der Münchner Benediktinerabtei St. Bonifaz, die einst entscheidende Anstöße für BISS gegeben hatte. Dort bietet man Bedürftigen weit mehr als nur Brot und Bett. In einer Ambulanz finden sie gesundheitliche Fürsorge plus seelische Betreuung.

Auch evangelische Christen sind schon lange für die Ärmsten der Armen aktiv. Die Lukaskirche bittet die Obdachlosen von den nahen Isarbrücken sonntags zum Brunch, manchmal stehen die Kellerräume obdachlosen Frauen offen. Ihr Anteil liegt bei 15 Prozent. Einmal erlebte Pfarrerin Aldebert, wie Polizisten den unter der Wittelsbacher Brücke campierenden Menschen ihr gesamtes armseliges „Mobiliar“ wegnahmen. Sie klagte: „Wieder mal haben sich in dieser Stadt diejenigen durchgesetzt, die anstelle der Armut lieber die Armen bekämpfen.“

Hilfe zur Selbsthilfe

In der Evangelischen Akademie Tutzing wurde denn auch die Idee für eine Straßenzeitung geboren. Schon in der ersten Nummer meldeten sich Betroffene selbst zu Wort. Einer war als „Penner“ krankenhausreif geschlagen worden. Diesen Bürgern wollte und will BISS beistehen, Mut machen und Hilfe zur Selbsthilfe anbieten.

Das Magazin wird von armen und obdachlosen Menschen verkauft, die Hälfte des Verkaufspreises dürfen die Verkäufer behalten. BISS setzt auf Arbeit als Schlüssel zur Integration und schafft für Verkäufer, die sonst keine Chance haben, seit 1998 sogar sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze. Zurzeit sind 51 von rund 100 Verkäufern fest angestellt. Alle Spendengelder werden für Bürger in sozialen Schwierigkeiten eingesetzt.

Und BISS wollte realistisch vom Leben im immer breiter werdenden Schatten der Gesellschaft berichten. „Wer noch nicht im Winter auf der Straße war, kann sich gar nicht vorstellen, wie schwierig das Überleben ist“, schrieb zum Beispiel Gerhard R. BISS war der Versuch, eine Brücke zu schlagen zwischen den Abgründen der sozialen Wirklichkeiten.'

Als Vorbilder dienten professionell aufgemachte Selbsthilfeprojekte in London und Paris – die französische Zeitung gibt es heute nicht mehr. Den Start in München ermöglichten Sponsoren: eine Papierfabrik, eine Druckerei und ein Buchbinder sorgten für die kostenlose Herstellung. Die Akademie der Bayerischen Presse stellte Raum und Computer, der Journalist Klaus Honigschnabel und der Kneipenkoch Hermann Swoboda, der als Unternehmer „abgestürzt“ und jahrelang obdachlos war, übernahmen zusammen mit dem Interessenkreis BISS die Redaktion.

Die Probleme der Armut, stellte der damalige Oberbürgermeister Christian Ude fest, würden wegen der gekürzten Sozialhilfe immer dringlicher und trotzdem von vielen Medien verdrängt. Ude, der einmal Mieteranwalt war, beteiligte sich 1996 an einer Aufsehen erregenden Plakat-Kampagne für BISS, zusammen mit Prominenten wie Konstantin Wecker und Uli Hoeneß. Einer der unermüdlichsten Paten der Obdachlosen war auch der extravagante Modemacher Rudolph Moshammer, der selbst armen Verhältnissen entstammte. Erst nach seiner Ermordung im Januar 2005 wurde bekannt, dass er im Sommer 2000 den Verein „Licht für Obdachlose“ gegründet hatte.

Im Ostfriedhof haben verstorbene Verkäufer einen eigenen Platz, Solidarität soll über den Tod hinaus sein. Dort ist auch Wolfgang Bryka begraben. Er war die Liebenswürdigkeit selbst, sein Standplatz im Stachus-Untergeschoss war ein Treffpunkt für Ratsuchende oder auch für einen Ratsch gut.

Scheitern im Landtag

Die BISS-Geschichte hat aber auch ein dunkles Kapitel. Wie man unermüdlich versuchte, das ehemalige Frauengefängnis am Neudeck zu erwerben und zu einem Musterhotel mit Ausbildungsplätzen auszubauen, hat der Filmemacher Wolfgang Ettlich in mehreren Filmen dokumentiert. Es sind Dokumente einer Schande. Da vernimmt man wohlwollende Worte von Ministerpräsident Günther Beckstein („sehr, sehr große Chance“) und vom OB Ude („.wird sich die Stadt nicht entziehen können“). Da erlebt man, wie die Bittsteller von BISS beim Verkauf des historischen Gemäuers durch den bayerischen Staat mitbieten wollen, wie sie mit einer Sammlung von 1,6 Millionen Euro und Tausenden von Unterschriften im Landtag und im Finanzministerium vorsprechen. Wie sie vom damaligen Vorsitzenden des Haushaltsausschusses, Georg Winter (CSU) abgefertigt werden wie lästige Bettler. Man sieht, wie sich eine SPD-Abgeordnete, deren Stimme wichtig gewesen wäre, mit schamhaftem Lächeln davonstiehlt. Und wie sich ein zuständiger Ministerialer verschanzt: „Ich bin Beamter, wenden Sie sich an unsere Pressestelle.“

Das Ergebnis ist bekannt: Das Projekt scheiterte an CSU, FDP und Freien Wählern, die sich auf das Gebot beriefen, Staatsobjekte nur zu Höchstangeboten abzugeben. Hildegard Denninger, die damalige Geschäftsführerin von BISS, die nun Vorsitzende der Stiftung ist, ärgert sich noch heute maßlos: „Wir wurden regelrecht ausgetrickst, indem der Vorsitzende die entscheidende Abstimmung im Haushaltsausschuss schnell noch vor unserem Vortrag ansetzte.“

Am Ende zahlte ein privater Investor 16 Millionen Euro für das ehemalige Gefängnis. Statt eines Hotels entstanden Luxuswohnungen. Für den Quadratmeter müssen Interessierte mit über 15 000 Euro rechnen.
(Karl Stankiewitz)

Fotos (dpa):
Verhüllte Statue am Wittelsbacher Platz: Mit dem Kunstprojekt will BISS die Aufmerksamkeit auf die Schutzsuchenden der Stadt lenken.
Kampagne 1996: Prominente wie Helmut Fischer werben für BISS.

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