Leben in Bayern

Vielen Eltern macht es Angst, wenn ihre Kinder auf Bäume klettern. (Foto: dpa)

05.10.2018

Ein Zuviel an Sicherheit

Jugendarbeit in Gefahr? Wie die Angst von Helikopter-Eltern Aufsichtspersonen in Bedrängnis bringt

Dass zu einer glücklichen Kindheit auch ein paar Schrammen und blaue Flecken gehören: Wer würde es bestreiten? Die meisten Erwachsenen werden in der Rückschau ganz sentimental. Jedenfalls, wenn die kleinen Wagnisse der Kindheit glimpflich ausgingen. Das erste Mal freihändig Fahrradfahren – und in den Brennnesseln landen. In der Brombeerhecke die Dornen unterschätzen. Zündeln und gerade noch rechtzeitig Wasser über die Flammen kippen. Am Morgen nach einer Party am Baggersee verfroren und verkatert Flaschen einsammeln. Überhaupt: Im Baggersee baden, unter Sternenhimmel.

Das waren Abenteuer, es war Freiheit. Es waren Lernerfahrungen, die man nicht missen will. Andererseits: Wenn die eigenen Kinder oder Schützlinge aufbrechen, um die Welt zu erkunden, trackt man sie am liebsten per Handy. Schauen sie begehrlich einen Baum hinauf, möchte man vorklettern und prüfen, welche Äste wirklich halten. Der schlimmstmögliche Ausgang des Geschehens, das Worst-Case-Szenario drängt sich auf.

Lebenskompetenz lernt man gerade auch durchs Scheitern

Dieses Grummeln im Magen, die Sorge, die Furcht, was geschieht, wenn nur ein einziges Mal alles schiefgeht, spüren Eltern von Anfang an. Auch professionelle Begleiter von Jugendlichen sind verunsichert. Doch wenn Jugendliche zu selbstständigen, freien Erwachsenen heranreifen sollen, müssen sie ihre Komfortzone verlassen und immer neue Risiken eingehen. Was auch heißen kann: Man strauchelt, fällt auf die Nase, scheitert. Auf dem Fachtag „Jugendarbeit in Gefahr“, veranstaltet vom Kreisjugendring, von der Stadt München und von der Katholischen Stiftungshochschule, ging es um eben dieses Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Risiko.

Jürgen Einwanger, Bildungsreferent der österreichischen Alpenvereinsjugend, stellte in seinem Eingangsreferat fest, dass in der gesellschaftlichen Mitte immer weniger Mut zum Risiko bestehe. Denn anders, als furchtsame Menschen glauben, bringt gerade ein Zuviel an Sicherheit Kinder und Jugendliche in Gefahr. Lebenskompetenz – die lernt man eben auch durch Scheitern. Wer nie hinfällt, weiß auch nicht, wie man wieder aufsteht. Verantwortung für Heranreifende übernehmen heißt darum auch: Ihnen das Rüstzeug mitgeben, mit Risiken verantwortlich umzugehen.

Einwanger unterschied allerdings auch sauber zwischen Risiko und Gefahr: Während Gefahr die Existenz bedroht, ist das Risiko lediglich eine Situation mit ungewissem Ausgang. „Immer, wenn wir etwas Neues wagen, verlassen wir Bekanntes und gehen ein Risiko ein“, so Einwanger. „Das kostet Mut, der Ausgang ist ungewiss.“

Er erinnerte daran, wie oft Kleinkinder stürzen, wenn sie laufen lernen. „Kinder setzen sich schrittweise immer herausfordernderen Situationen aus – wenn man sie lässt. Sie wagen das Risiko und wachsen daran“, sagte der Pädagoge. Kaum eine Mutter würde ihr Kind der Stürze wegen vom Gehen abhalten. Andere kindliche Lernfreiräume, da waren sich die Referenten der Tagung einig, werden heute allerdings mehr und mehr beschnitten. „Der Bewegungsradius von Kindern ist dramatisch geschrumpft“, so Einwanger mit Verweis auf einschlägige Studien. Weil Helikoptereltern Angst um ihre Kinder haben. Und professionelle Begleiter fürchten, ihre Aufsichtspflicht zu verletzen und damit haften zu müssen.

Aufpasser wähnen sich mit einem Fuß im Gefängnis

Seltene Einzelfälle, in denen Kinder tatsächlich verunglücken und Einrichtungen erfolgreich verklagt werden, vermitteln den Eindruck, die Gefahr sei die Norm. Wer mit Jugendlichen arbeitet, wähnt sich da leicht mit einem Fuß im Gefängnis. Dabei ist es bei der Begleitung Jugendlicher, so die Experten einhellig, viel riskanter, allein auf Sicherheit zu setzen. Auch, weil allzu enge Grenzen geradezu verlocken, sich an nichts mehr zu halten. Der Jurist Markus Schön verwies darauf, dass das Recht Jugendlicher auf die Förderung ihrer Entwicklung gesetzlich festgelegt sei. „Auch im Rahmen der mit vielen Ängsten behafteten Aufsichtspflicht geht es demnach nicht darum, Risiken völlig zu vermeiden“, folgerte er, „sondern einen sinnvollen Umgang mit möglichen Gefahren zu schulen.“

Führe die Schnitzeljagd einer Pfadfindergruppe über eine stark befahrene Autobahn, so der Referent, sei das selbstredend grob fahrlässig. Die Erlaubnis, auf einen Baum zu klettern, sei dagegen anders zu bewerten. Schließlich ist Jugendhilfe dazu da, Jugendliche zu Entscheidungsfähigkeit und Eigenverantwortlichkeit zu befähigen. Auf diesem Weg ist das Sammeln eigener Erfahrungen ein wichtiges Gut.

Und wenn wirklich etwas geschieht? Spätestens dann greift der mehrstufige Präventionsplan der Feuerwehr. Zur Prävention gehört zwar vor allem die professionelle Gefahrenvermeidung vorab. Aber, so Andreas Igl, Geschäftsführer der Freiwilligen Feuerwehr München: „Auch wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, gibt es noch viele Möglichkeiten der Prävention!“ Und Eva Götz vom Stadtjugendamt zitierte den römischen Kaiser Marc Aurel. Jugend bedeute, sagte der in einer Ansprache vor Soldaten, „Sieg des Mutes über die Mutlosigkeit, / Sieg der Abenteuerlust über den Hang zur Bequemlichkeit.“

So gesehen war die Tagung auch eine eindringliche Ermutigung aller Eltern, Sozialpädagogen und Ehrenamtlichen, den Jugendlichen die Freiheit zum Jungsein zu gewähren, die sie dringend brauchen.
(Monika Goetsch)

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