Leben in Bayern

Barbara Theml, Ärztin im Ruhestand, untersucht gemeinsam mit einer Studentin einen Patienten. (Foto: Peters)

30.03.2012

Entwicklungshilfe im reichen München

Medizinische Versorgung als Menschenrecht: Ehrenamtliche Ärzte untersuchen und behandeln Patienten in Notsituationen.

Egal ob Deutsche ohne Krankenversicherung oder Flüchtlinge ohne Aufenthaltserlaubnis: Im Auftrag von „Ärzte der Welt“ versorgen Ehrenamtliche wie Barbara Theml in der  Maxvorstadt Patienten anonym und kostenlos. „Open.med“ heißt das außergewöhnliche Projekt, an das sich immer mehr Hilfesuchende wenden. „Aufgrund vom Unbill des Schicksals bin ich in eine Situation geraten, in der ich auf das Wohlwollen anderer Menschen angewiesen bin.“ So beginnt der traurige Bericht eines Menschen, der durch die Maschen unseres Sozialstaats gerutscht ist.
Laut dem aktuellen Bericht zur sozialen Lage in Bayern, stand jedem Einwohner Bayerns zwar 2008 ein durchschnittliches verfügbares Einkommen von etwa 1700 Euro im Monat zur Verfügung. In der Studie heißt es allerdings auch: Im selben Jahr waren mehr als 1,6 Millionen Menschen in Bayern von Armut betroffen: Sie hatten weniger als 844 Euro im Monat zur Verfügung.
Nur knapp über diesem Betrag liegt die Rente von Hubert Maier, der eigentlich anders heißt, aber aus Scham seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Der 65-Jährige hat fast 20 Jahre lang als kleiner Angestellter im öffentlichen Dienst gearbeitet und in die Sozialkassen eingezahlt – „zum Wohlstand unseres Landes beigetragen“, so sieht er das. Dann wollte er es noch einmal wissen und machte sich als Taxiunternehmer selbständig. Das ging schief, und er musste Privatinsolvenz anmelden. Heute lebt der aus Bayerisch-Schwaben kommende Rentner von 980 Euro im Monat, wovon fast die Hälfte für die Miete seiner kleinen Wohnung draufgeht. Eine Gesundheitsversorgung kann er sich einfach nicht leisten.
640 Euro würde Hubert Maier die private Krankenversicherung (KV) kosten, das Geld hat er nicht. Die gesetzliche KV aber nimmt ihn nicht. Dazu müsste erHartz IV beantragen. „Niemals“, empört sich der rüstige Senior, denn das wäre für ihn ein „neuerlicher Absturz“.
Also lebt er ohne Versicherungsschutz, bezahlt aber auch dafür einen hohen Preis, denn ständig lebt er mit einem Risiko: Was passiert, wenn er krank wird, gebrechlich? „Jeden Abend mit solch belastenden Gedanken einschlafen zu müssen, nimmt einem jeden Lebensmut“, erzählt Maier. „Am Anfang habe ich mich kaum auf die Straße getraut“ – aus Angst, dass ihm etwas zustoßen könnte. Denn wer würde ihn dann behandeln? Doch Maier hatte Glück. Sein Mittagessen nimmt er regelmäßig im Männerasyl an der Pilgersheimer Straße ein – „da ist es preiswert und echt gut“ – und dort hörte der Schwabe das erste Mal von der Ambulanz Open.med in der Maxvorstadt.
Etwas abseits gelegen, in der Görresstraße 43, bieten ehrenamtlich tätige Mediziner der Nichtregierungsorganisation Ärzte der Welt Menschen wie Maier unentgeltlich ihre Dienste an. Schon von außen kann man durch die große Fensterfront sehen, dass im geräumigen Wartezimmer fast jeder Stuhl belegt ist. Offenheit und Transparenz sei ihnen wichtig, sagt Ute Zurmühl vom Team Ärzte der Welt, „damit die Leute sich auch hereintrauen“. Können die 14 Allgemeinmediziner und zwei Kinderärzte nicht weiter helfen, steht ein Netz von 70 Fachärzten zur Weiterbehandlung zur Verfügung. Außerdem Dolmetscher für die verschiedensten Sprachen.


Das Wartezimmer ist immer randvoll


Etwa 13 Prozent der Patienten von Open.med sind Deutsche. Viele sind Selbständige, die zu wenig verdienen, um sich zu versichern – aber doch zu viel, um von den Sozialämtern unterstützt zu werden. Dazu kommen einige Obdachlose. Der größte Teil der Hilfesuchenden aber besitzt keinen deutschen Pass. Viele von ihnen sind in einer verzweifelten Situation, manche halten sich illegal in Deutschland auf.
Die größte Gruppe kommt aus neuen EU-Staaten wie Bulgarien oder Rumänien. Sie dürfen hier zwar drei Monate ohne Visum bleiben, aber sie dürfen in der Regel keine feste Stelle annehmen, sondern nur selbständig arbeiten, zum Beispiel als Putzfrau oder auf dem Bau – meist prekäre und extrem unterbezahlte Jobs. An eine private Krankenversicherung ist für diese Menschen nicht zu denken. Krank oder schwanger werden sie trotzdem.
Zweimal in der Woche bietet Open.med für drei Stunden seine Sprechstunde an. Den Helfern von Ärzte der Welt ist es wichtig, dass die Menschen sich willkommen fühlen. Eine ehrenamtlich arbeitende Krankenschwester steht am Empfang, fragt nach den Beschwerden, nicht nach Aufenthaltsstatus oder Namen. Es interessiert nur der Mensch und sein Leiden. Barbara Theml, eine Hausärztin im Ruhestand, ist eine der behandelnden Doktoren. Sie freut sich, dass sie sich auch nach Aufgabe ihrer Praxis noch nützlich machen kann. Ihr assistiert eine Medizinstudentin und profitiert so ganz nebenbei von der langen Berufserfahrung der Allgemeinmedizinerin. Eine win-win-Situation für alle.
Begonnen hat alles mit dem Café 104, das vor 14 Jahren von Mitgliedern des bayerischen Flüchtlingsrats in München gegründet wurde. Zunächst ging es in erster Linie um die Beratung von Menschen mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus. Doch sehr schnell wurde klar, dass die gesundheitliche Grundversorgung mindestens ebenso prekär ist wie die rechtliche Situation und so ging die Gruppe 2006 eine Kooperation mit Ärzte der Welt ein.
Diese Nichtregierungsorganisation engagierte sich bis dahin nur in internationalen Krisengebieten, leistete Soforthilfe bei Katastrophen ebenso wie Wiederaufbau-, Präventions- und Entwicklungshilfe. Und Letztere ist eben auch in einer reichen Stadt wie München nötig, wenn es um die Behandlung von Menschen ohne Zugang zur Krankenversicherung geht. Die ehrenamtlichen Helfer werden nicht müde, die politischen Verantwortlichen und die Gesellschaft auf die erschwerten Lebensbedingungen ihrer Schützlinge aufmerksam zu machen. Die Situation ist besorgniserregend, die Patientenzahl steigt stetig an. Von 2009 zu 2010 gab es bei Open.med einen Patientenzuwachs von 33 Prozent.


Die Stadt hat für die Ärzte einen Fonds eingerichtet


Bei der Stadt München hat die Lobbyarbeit gefruchtet, sie hat im Jahr 2009 einen speziellen Fonds eingerichtet und mit 100 000 Euro ausgestattet, mit denen das Café 104 und die Ambulanz von Ärzte der Welt bei ihrer Notfallversorgung unterstützt werden. Den Rest finanzieren die ehrenamtlichen Helfer durch Spenden.
Für Hubert Maier sind die ehrenamtlichen Helfer von Open.med „Schutzengel für die Fallengelassenen“, die ihm mit ihrer Hilfe auch seine Menschenwürde zurückgegeben haben. Seit er weiß, wo er hin kann, wenn es ihm einmal nicht gut geht, sieht man ihn häufig mit seinem Fahrrad durch die Stadt flitzen. Mit ihm haben die Mitarbeiter von Ärzte der Welt einen dankbaren Fan, der auch anderen Hilfsbedürftigen von ihrem Angebot erzählt. Auf diese Mund zu Mund-Propaganda ist die Hilfsorganisation angewiesen. „Ohne lange nachzufragen, wird hier geholfen und das um Gottes Lohn“, so der Rentner, der in Sachen Sozialpolitik eine sehr dezidierte Meinung hat: Von diesem Engagement könne sich „das profitsüchtige Kommerz- und Politikunwesen hierzulande eine gehörige Scheibe abschneiden“. (Gabi Peters)

Kommentare (0)

Es sind noch keine Kommentare vorhanden!
Die Frage der Woche

Soll die tägliche Höchstarbeitszeit flexibilisiert werden?

Unser Pro und Contra jede Woche neu
Diskutieren Sie mit!

Die Frage der Woche – Archiv
Vergabeplattform
Vergabeplattform

Staatsanzeiger eServices
die Vergabeplattform für öffentliche
Ausschreibungen und Aufträge Ausschreiber Bewerber

Jahresbeilage 2024

Nächster Erscheinungstermin:
28. November 2025

Weitere Infos unter Tel. 089 / 29 01 42 54 /56
oder
per Mail an anzeigen@bsz.de

Download der aktuellen Ausgabe vom 29.11.2024 (PDF, 19 MB)

E-Paper
Unser Bayern

Die kunst- und kulturhistorische Beilage der Bayerischen Staatszeitung

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.