Leben in Bayern

Michael Widmann in Halle 1 vom Großmarkt München. Dort wird nachts die Ware umgeschlagen. (Foto: Lino Mirgeler/dpa)

01.08.2019

Feilschen zwischen Erdbeerkisten

Beeren, Gemüse, Pilze: Auf dem Münchner Großmarkt wird nachts die Ware umgeschlagen, die am Tag andernorts auf den Tisch kommt. Das Geschäft ist hart - nicht nur wegen der Arbeitszeiten. Missgunst und ein harter Ton gehören dazu

In den Gängen der denkmalgeschützten Halle im Münchner Süden mischt sich Zigarettenrauch mit dem süßlich-stechenden Duft von Erdbeeren. Es ist kurz nach 3.00 Uhr morgens, eine Gestalt mit Kaffee und Kippe schlurft geisterhaft zwischen Obstkisten entlang. Die Großmarkthalle München erwacht früher als der Rest der Landeshauptstadt, aber im selben Tempo.

Seit mehr als 100 Jahren decken sich hier Markthändler, Restaurantbetreiber und Supermärkte mit Obst und Gemüse ein. Für einen Einzugsbereich von fünf Millionen Menschen liefern 270 Großhändler die Ware.

Einer von ihnen ist Michael Widmann. Der 54-Jährige sitzt am Schreibtisch in einem kleinen Verschlag neben dem Eingang, die Wände sind tapeziert mit Familienfotos: Urlaube, Einschulungen. "Viele Kollegen gehen vor ihren Kindern ins Bett", sagt er. Widmann selbst haut sich zwischen neun und zehn am Abend hin, um kurz vor zwei ist er schon wieder an seinem Stand. "Bei der Hitze steht es sich besonders schlecht auf", sagt er. Neu ist das nicht. Seit mehr als 40 Jahren macht er das. Widmann und sein Bruder Hans sind Geschäftsführer im Familienbetrieb.

Vor dem Verschlag haben seine Mitarbeiter die Erdbeerkisten aufgetürmt, schulterhoch. Der Tag zuvor war gut, 3000 Stück sind weggegangen. Sommerzeit ist Obstzeit, Widmann hat gut zu tun. Melonen, Pflaumen, Himbeeren, Pilze, Salat stehen in langen Reihen hinter den Erdbeeren, beschienen vom grellen Neonlicht, das in der Halle die Nacht drumherum vergessen macht.

"Der Neid ist sehr groß"

Der Münchner Großmarkt ist der größte seiner Art in Bayern. Einen vergleichbaren Umschlagplatz gibt es in Nürnberg. Die Großhandelsbranche erwirtschaftet nach Auskunft des Landesverbands Groß- und Außenhandel einen Umsatz von 150 Milliarden Euro im Freistaat und beschäftigt 260 000 Mitarbeiter.

Mit der Zeit kommt Bewegung in den Markt. Arbeiter fahren Kisten auf Hubfahrzeugen herum, hinter der Halle rollen Lieferwagen und Lastwagen heran. Ein Kunde kommt zu Widmann an den Stand. "Ich brauche Him, Heidel, Brom und Erd", sagt Josef Neuberger, der einen Marktstand in der Münchner Innenstadt betreibt. Händler Widmann ist spezialisiert auf Beeren. Sie lehnen sich an die Erdbeerkisten. Bei der Preisverhandlung verwandelt sich das Gespräch in ein leises Murmeln, unhörbar für Außenstehende. Auf dem Großmarkt kostet ein Schälchen Erdbeeren ein bis zwei Euro. Das Geschäft steht, Neuberger packt sich seine Beeren auf eine Palette.

Widmanns Kollegen bringen sie später zum Lieferwagen. In der Ladezone, wo die Gabelstapler fahren, herrscht Durcheinander. "Idiot! Was machst du für einen Scheiß!", brüllt ein Arbeiter einen anderen an. "Das ist sehr rustikal hier, eine eigene Mentalität. Da darf man nicht zartbesaitet sein", sagt Widmann. Erst recht nicht als einer der Händler, die einander nichts gönnen. Gibt es Solidarität in diesem Mikrokosmos, der abseits gewöhnlicher Wachzeit funktioniert? "Der Neid ist sehr groß", sagt Widmann. Da werde vor den Kunden schon mal über andere Händler gelästert.

Auf der Branche lastet großer Druck

Viele spüren den Druck, der auf der Branche lastet. Die meisten großen Supermärkte beziehen ihre Ware über einen eigenen Einkauf, direkt von den Erzeugern. Widmann hat beobachtet, wie die Zahl der Betriebe auf dem Großmarkt über die Jahre geschrumpft ist. Übrig geblieben sind die Geschäftstüchtigsten. Pro Jahr schlagen sie 800 000 Tonnen Ware um, ein Umsatz von 750 Millionen Euro.

Vor der Halle wird es langsam hell. An einem Holzpult neben dem Obst stapeln sich Zettel mit den Bestellungen. Gegen Mittag ist Feierabend für Widmann. Vielleicht fährt er noch ein bisschen Rad zuhause, für den Kreislauf. Er muss in Bewegung bleiben, sonst fordert der vom Tagesrhythmus entkoppelte Lebenswandel körperlichen Tribut.

Doch für den 54-Jährigen muss es der Großmarkt sein, diese raue Welt mit ihrem Gewusel und ihrer eigenen Art von Ordnung. "Ich im Büro", sagt Widmann, "das würde nicht funktionieren."
(Tom Sundermann, dpa)

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