Elternabend an einer Schule im Allgäu. Väter und Mütter sitzen gespannt im Klassenzimmer. Was werden ihnen die Lehrer ihrer Kinder gleich erzählen? Die meisten lächeln, als zwei Lehrkräfte das Zimmer betreten. Nach wenigen Minuten lächelt niemand mehr. Weder Lehrer, noch Eltern. Der erste Lehrer stellt sich vor und sagt: „Ich habe das Vergnügen, ihre Kinder in Englisch zu unterrichten. Aber ich muss sagen, dass das alles andere ist als ein Vergnügen.“ Der Kollege ergänzt: „Disziplin, Aufmerksamkeit und Wissensstand der meisten Schüler dieser Klasse sind verheerend.“
Überforderung macht krank: Studien lassen aufhorchen
Gefrustete Lehrer, überforderte oder undisziplinierte Schüler, irritierte Eltern: ein Teufelskreis, unter dem alle Beteiligten leiden. Viele Studien weisen auf eine angespannte Situation: 33 Prozent der Sieben- bis Neunjährigen leiden unter Leistungsdruck, hat unlängst der deutsche Kinderschutzbund erklärt. Laut einer Statistik der gesetzlichen Krankenversicherung verschreiben Ärzte jährlich Ergo-, Physio- und Sprachtherapien im Wert von 660 Millionen Euro. Auch eine Zahl, die aufhorchen lässt: Bis zu 1,5 Milliarden Euro geben Eltern im Jahr für den Nachhilfeunterricht ihrer Kinder aus, so die Bertelsmann-Stiftung.
Es herrscht Frust statt Lust an deutschen Schulen. Ganz neu ist diese Erkenntnis zwar nicht. Aber dennoch wird immer noch nicht genug dagegen getan, meinen viele Betroffene. „Lehrer müssen in den letzten Jahren nicht mehr allein Schüler ausbilden, sondern auch viele Erziehungslücken, die in den Familien anfallen, auffangen“, sagt etwa Klaus Wenzel, Präsident des bayerischen Lehrerverbands (BLLV). Das Schulsystem aber sei immer noch das gleiche wie vor 150 Jahren und unfähig, diese Veränderungen zu berücksichtigen. Wenzel moniert: „Die Lehrer erfahren wenig Anerkennung für ihre Arbeit und fühlen sich zwischen allen Stühlen.“
Pia von Löwis sitzt an der Basis. Die 37-Jährige ist Jugendsozialarbeiterin im Oberallgäu und kümmert sich im Rahmen des bayerischen Förderprogramms Jugendsozialarbeit an Schulen (JaS) um sozial benachteiligte Schüler ab der 5. Klasse. Ihre Zwischenbilanz: „Über mangelnde Arbeit kann ich mich wirklich nicht beklagen.“ Sie glaubt, die Ideen von Jesper Juul, einem dänischen Familientherapeuten, könnten helfen. Juul ist der Überzeugung, dass an den Spannungen in der Schule nicht alleine die Kinder schuld sind. Aber auch nicht alleine die Lehrer. Er fordert: „Am Gesamtsystem in der Schule und an den Beziehungen untereinander muss sich langfristig etwas ändern“, um den Teufelskreis von gefrusteten Lehrern, Schülern und Eltern durchbrechen zu können. Erst dann könne wieder Lust statt Frust an den Schulen herrschen.
An der Grund- und Mittelschule im Oberallgäuer Buchenberg ist man bereit, Juuls Weg auszuprobieren. An diesem Vormittag ist Sabine Baumberger auf Einladung der JaS dort, im Rahmen einer Lehrerfortbildung. Die ehemalige Lehrerin aus Kempten hat bereits vor Jahren den Platz am Lehrerpult geräumt, um die Schulsysteme anderer Länder genau unter die Lupe zu nehmen. Am Ende hat sie Jesper Juul zur Eltern-, Familien- und Schulberaterin ausgebildet. Baumbergers Fazit: Die Beziehung von Lehrer und Schüler, aber auch die von Lehrern und Eltern müssten intensiver, offener und persönlicher werden. Juul benutzt dafür den Begriff der „gleichwürdigen Beziehung“.
Zunächst sollen die Allgäuer Lehrer ihre eigene emotionale Intelligenz einschätzen. Was sie da Preis geben sollen, irritiert sie. Da gibt es zum Beispiel vorgegebene Antworten wie „In belastenden Situationen verliere ich schnell die Nerven und mache dann auch viele Fehler“ oder „Wenn ich richtig wütend bin, habe ich mich nicht mehr unter Kontrolle“ , die sie ankreuzen können. Baumberger weiß von den Schwierigkeiten vieler Lehrer, sich mit den eigenen persönlichen Stärken und vor allem Schwächen den Kollegen gegenüber zu öffnen. Die Lehrer, die für gewöhnlich souverän zu wirken haben, müssten hier über eine hohe Hürde springen, um sich von ihrer persönlichen Seite zeigen zu können, sagt sie. Aber nur so könne eine neue Beziehung zwischen Lehrern und Schülern entstehen.
"Lehrer sind oft viel zu unpersönlich"
An der Wand des Buchenberger Seminarraums hängen Transparente. Darauf stehen Forderungen von Juuls: eine stärkere Vernetzung und Zusammenarbeit von Lehrkräften und Eltern zum Wohle der Schüler (lernendes Dreieck); ein intensiverer Dialog innerhalb des Dreiecks; eine regelmäßige Lehrer-Fortbildung in den Bereichen Konfliktbewältigung und Beziehungskompetenz; ein intensiverer Austausch innerhalb des Lehrerkollegiums; mehr Vernetzung mit Jugendsozialarbeitern. Juuls Beobachtung: „Lehrer versuchen zu oft, das Verhältnis zum Schüler so unpersönlich wie möglich zu machen. Das ist aber ein riesiger Trugschluss.“
Ein Rollenspiel soll demonstrieren, was gemeint ist. „Weshalb habe ich eigentlich immer solche Probleme mit dir?“, sagt der Lehrer zum Schüler. Die Antwort: „Weil Sie mich dauernd anmaulen und bestrafen.“ Lehrer genervt: „Weil du aber auch immer schwätzt und störst.“ Baumberger hat einen Vorschlag, wie es besser gehen könnte. „Ich versuche seit Beginn dieses Schuljahres, dich zur Zusammenarbeit zu bewegen, aber es gelingt mir nicht. Wir haben ständig Probleme miteinander. Kannst du mir sagen, was ich falsch mache mit dir?“, wäre eine gute Frage des Lehrers. Der Schüler könnte dann möglicherweise antworten: „Sie sind bei mir viel ungeduldiger als bei anderen und maulen mich oft an.“ Lehrer: „Das ist mir nicht bewusst gewesen, darüber muss ich erst nachdenken. Wenn es das nächste Mal wieder vorkommt, dann sprich mich doch bitte gleich darauf an, damit wir überlegen können, warum das so ist.“
An der Buchenberger Grund- und Mittelschule blickt man in teilweise verwunderte Gesichter. Das soll wirklich funktionieren? Andererseits: Das ständige Ermahnen und Androhen von Strafen war ja bislang auch nicht unbedingt von Erfolg gekrönt. Also wollen sich die Lehrer in dieser Fortbildung auf Baumbergers Thesen einlassen, obwohl sie mit der eigenen Lehrerausbildung wenig gemein haben. Dort stand Wissensvermittlung an oberster Stelle. Jetzt werden die Lehrer mit Begriffen wie Beziehungskompetenz, Dialog, Wertschätzung oder Kooperation konfrontiert, und die sollen ebenso wichtig sein.
Gabriele Schreindorfer ist Konrektorin an der Buchenberger Schule. Sie betont: „Spannungen im Unterricht dürfen wir nicht ignorieren.“ Für sie sei es deshalb keine Frage, stets nach Verbesserungen zu suchen. Wenn man die bei alternativen Theorien findet – auch gut. In den nächsten Tagen soll nun geübt werden, wie ein Gespräch mit einem schwierigen Schüler laufen könnte. Oder mit Eltern, deren Kinder im Unterricht auffallen. Ein Lehrer hat sich nach der Juul-Fortbildung vorgenommen: „Ich habe 20 Jahre nach dem gleichen Muster unterrichtet. Nun will ich mich mehr mit anderen Kollegen austauschen – über eigene Stärken und Schwächen.“
Und vielleicht wird es auch hier mal jenes Modell geben, das zum Ziel hat, die Eltern stärker ins Boot zu holen. Am Gymnasium Isny im baden-württembergisches Allgäu wird das bereits umgesetzt. Ein mal im Monat wird ein Elterncafé veranstaltet, wo sich Väter und Mütter mit den Lehrern über Probleme rund um den Schulalltag austauschen und gemeinsam Lösungen und Kompromisse finden können. (Freddy Schissler)
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