Menschen, die eng miteinander arbeiten, sollten möglichst dieselbe Wellenlänge haben. Sollten ein eingespieltes Team sein. Das gilt nicht zuletzt für Menschen mit Behinderung: Manche werden rund um die Uhr von persönlichen Assistent*innen unterstützt. Nun wird die Suche nach Assistenzkräften immer schwieriger. Jemanden zu finden, mit dem man sich blind versteht, ist zum absoluten Glücksfall geworden. Das studentische Projekt assistenz-erklaert.de will die Situation verbessern.
Der Mangel an Pflegepersonal wirkt sich nachhaltig negativ aus, und zwar in vielen Lebensbereichen. Sowohl Senior*innen als auch Menschen mit Behinderung leiden unter der prekären Situation. Nun ist es allerdings so, dass Menschen mit Handicap, die in ihren eigenen vier Wänden Unterstützung benötigen, weil sie zum Beispiel nichts greifen oder heben können, auch Assistenzkräfte ohne Pflegeausbildung akzeptieren.
„Das ist weithin unbekannt“, sagt die Würzburger Masterstudentin Franziska Mittelstädt. Sie selbst wurde durch Zufall persönliche Assistentin: „Ich erfuhr durch Freunde, dass man dafür keine spezielle Qualifizierung benötigt.“ Zusammen mit fünf Kommilitoninnen und Kommilitonen tüftelt Franziska Mittelstädt gerade an einem Onlineauftritt für persönliche Assistent*innen sowie für behinderte Menschen, die Assistenz suchen.
Dies tut sie im Rahmen der „Projektiade“ an der Universität Würzburg. Dieser Wettbewerb wird heuer zum 20. Mal von Harald Wehnes, Experte für Projektmanagement vom Lehrstuhl für Informatik III, veranstaltet. „assistenz-erklaert.de“ ist eines von fünf digitalen Start-ups, die in diesem Sommersemester entwickelt werden. Alle Projekte werden bei einer Abschlussveranstaltung am 17. Juli um 12 Uhr öffentlich präsentiert.
Mit einer neuen Konvention fing alles an
Was könnte die richtige Strategie sein, um Assistenzkräfte zu gewinnen? Barbara Windbergs, Gründungs- und Vorstandsmitglied des Verein WüSL – Selbstbestimmt Leben Würzburg, hat sich darüber schon oft den Kopf zerbrochen. Die Rollstuhlfahrerin ist aufgrund einer Multiplen Sklerose (MS) schwerstbehindert. Ein Heim allerdings käme niemals für sie infrage. Barbara Windbergs will selbstbestimmt in ihrer eigenen Wohnung leben. Seit 2010 helfen ihr Assistentinnen dabei.
Fünf hat sie im Moment. Allerdings kommt es immer mal wieder zum Wechsel. „Dann suche ich über das Arbeitsamt, über soziale Medien, über Kleinanzeigen im Internet oder über Aushänge“, berichtet sie. Die Suche dauert oft sehr lange.
Mit der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen kamen vor 15 Jahren neue Tendenzen in der Behindertenpolitik auf. Das Übereinkommen machte Menschen mit Handicap Mut, sich gegen Fremdbestimmung zu wehren. Unter dem Schlagwort Inklusion begannen sie, Sondereinrichtungen infrage zu stellen. Dadurch hat sich seit 2008 eine Menge verändert.
Doch es bleibt noch viel zu tun. Nicht zuletzt in puncto Persönlicher Assistenz. Die Plattform assistenz-erklaert.de bietet zur Verbesserung der Situation eine Jobbörse an, außerdem wird ein Leitfaden entwickelt, der dabei helfen soll, zu eruieren, ob jemand als Assistenzkraft geeignet ist.
„Es ist gar nicht so leicht, anderen zu erklären, wie der Beruf der Assistentin ist“, sagt Franziska Mittelstädt. Natürlich kann man davon erzählen, dass man einem Menschen mit Behinderung beim Essen hilft. Dass man ihn beim Duschen unterstützt. Dass man ihn zum Einkaufen begleitet. Dass man mit ihm auf die Toilette geht. Persönliche Assistenz bedeutet durch die intensive Nähe zum behinderten Menschen jedoch sehr viel mehr.
Die Plattform richtet sich in erster Linie, allerdings nicht ausschließlich an Nutzer*innen, für die persönliche Assistenz noch Terra incognita ist. Wer sich prinzipiell vorstellen könnte, einen behinderten Menschen zu Hause zu unterstützen, soll konkrete Tipps für den Berufsalltag erhalten. Persönliche Assistenz zu leisten, ist nämlich gar nicht so einfach, sagt Franziska Mittelstädt: „Wichtig ist es zum Beispiel, die Person mit Behinderung zu fragen, wie sie denn berührt werden möchte.“
Der Content wird laut ihrem Kommilitonen Tim Forster barrierearm zugänglich gemacht. Auch Menschen mit Migrationshintergrund sollen die Seiten problemlos nutzen können. Gerade hier, vermutet Franziska Mittelstädt, gibt es noch viel Potenzial, um den Pool an persönlichen Assistent*innen endlich nennenswert zu vergrößern.
In den eigenen vier Wänden ohne Assistenz zu leben, würde für Menschen wie Barbara Windbergs Isolierung bedeuten. Sie käme nicht mehr raus. Könnte keine Freunde mehr treffen. Könnte nicht mehr ins Kino gehen. Persönliche Assistenz ist für behinderte Menschen, die selbstbestimmt leben wollen, absolut essenziell.
Darum begrüßt das WüSL-Vorstandsmitglied die Initiative der Studierenden. Dem sechsköpfigen Team gehören die vier angehenden Diversitätsmanager Franziska Mittelstädt, Tim Forster, Maria Gross und Mareike Plathner-Löffler, Informatikstudent Yasin Rais sowie Fabian Daniel, der Business Management studiert, an.
Eine einheitliche Jobbörse ist das Ziel
WüSL hofft, dass viele Menschen mit Behinderung bundesweit durch die Plattform einen neuen Weg entdecken werden, an Assistenzkräfte zu kommen. Durch Videos von Assistent*innen, die von ihren Erfahrungen berichten, soll lebendig über das Berufsbild informiert werden. „Unsere Plattform möchte gleichzeitig eine einheitliche Jobbörse bieten“, sagt Studentin Maria Gross.
Im Augenblick gibt es viele verschiedene Assistenzbörsen. Inwieweit es rein rechtlich möglich ist, sie zusammenzuführen, wird im Projektteam gerade geklärt. Noch ist ein wenig Zeit für die Optimierung der Plattform. Das Team von WüSL ist genauso gespannt wie die Studierenden, wie gut das Start-up bei der Projektiade am 17. Juli ankommen und ob es den Wettbewerb gar gewinnen wird.
Sollte das Projekt gut funktionieren, würden sich die Studierenden wünschen, dass WüSL die Domain übernimmt und in Zukunft pflegt. Schade fänden es alle, würde das, was nun ein Semester lang mit sehr viel Fleiß entwickelt wurde, nach dem Wettbewerb einfach wieder in der Schublade verschwinden.
Neben assistenz-erklaert.de werden bis Mitte Juli vier weitere Projekte entwickelt, die sich bei der Projektiade um den ersten Preis bewerben. Und auch die klingen vielversprechend.
In einem zweiten Projekt geht es darum, mittels Wi-Fi oder Radar zu ermitteln, wie viele Menschen bei einer Veranstaltung sind. Die Anwendung könnte zum Beispiel bei Demonstrationen zum Einsatz kommen. Aber auch für Veranstalter von Festivals könnte das digitale Start-up namens „People Counter“ interessant sein. Projektpartner ist hier die Stadt Würzburg.
In einem dritten digitalen Projekt, das am 17. Juli vorgestellt wird, geht es um eine Spendensoftware für Unternehmen. „neugedacht“ nennt sich diese Anwendung. Welche Nichtregierungsorganisationen (NGO) kommen für ein bestimmtes Unternehmen infrage? Welche passen gar nicht?
Die an diesem Projekt beteiligten Studierenden wollen ein Modell entwickeln, nach dem sich Hilfsorganisationen eigenständig listen können. In den vergangenen Wochen wurde hierzu ein Fragenkatalog entwickelt. Außerdem wurde vom Projektteam eruiert, welche Dokumente der verschiedenen Organisationen, die eine Spende erhalten möchten, unbedingt geprüft werden müssen. Gelistet werden nicht nur die großen Player, sondern auch kleine und lokale Hilfsorganisationen. Die Studierenden erhoffen sich, dadurch neue Unternehmen als Spender zu finden. Ziel ist es, dass am Ende mehr Geld als bisher von Unternehmen an NGOs fließt.
Auch die anderen Projekte sind vielversprechend
„Simple Order“ nennt sich ein viertes Projekt. Hier geht es darum, den Bestellprozess im Restaurant zu optimieren. Dem Projektteam fiel auf, dass immer wieder mal Bestellungen im Restaurant vergessen werden. Manchmal wird auch das Falsche gebracht, weil es zu einem Missverständnis gekommen ist. Für Ärger sorgt zudem, wenn die Bedienung sehr lange braucht, bis sie an den Tisch kommt. Kellnerinnen und Kellner wiederum nervt es, wenn sie lange am Tisch stehen müssen, weil sich der Gast einfach nicht entscheiden kann, was er essen und trinken möchte.
Die App „Simple Order“ soll beim Entscheidungsprozess unterstützen. Fehlbestellungen sollen vermieden und Kellner entlastet werden. Weil an vielen Stellen Zeit gespart wird, könnten sich Restaurantbesuche nach Ansicht des Projektteams verkürzen. Für Gaststätten hätte dies den Vorteil, dass sie mehr Menschen bedienen und damit mehr Umsatz machen könnten.
Welche Sozialleistungen stehen mir zu? Die Frage ist sehr schwer zu beantworten. Allein für Familien gibt es Dutzende verschiedener Hilfen, die mühsam zusammengesucht werden müssen. Ein fünftes digitale Start-up-Projekt namens „Sozialomat“ will hier in Zukunft für Abhilfe sorgen. Gelingen soll dies mithilfe von Chatbots, künstlicher Intelligenz und Terminals. Ziel der studentischen Gruppe ist es, für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen. (Pat Christ)
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