Fuat Oduncu kam mit vier Jahren aus Südostanatolien ins Allgäu. Sein Vater lebte und arbeitete damals bereits seit drei Jahren in Füssen und holte die Familie nach. Hauptmotivation des Vaters, der selbst Analphabet war, in die Fremde zu ziehen: Er wollte seinen Kindern bessere Lebenschancen bieten, als er sie hatte. Mit großem Erfolg: Sein Sohn hat gerade das Bundesverdienstkreuz bekommen.
Am 25. September, am Tag vor der Bundestagswahl, kam der Brief von Markus Söder an. Und landete erst einmal ungeöffnet im Papiermüll. „Zusammen mit der Werbung von Lidl, Rewe und Aldi“, erzählt Fuat Oduncu und lacht. Der 51-Jährige hielt ihn für Wahlwerbung. Aber dann fischte er ihn doch noch mal aus dem Abfall – zum Glück. Denn darin stand: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier habe Oduncu das Bundesverdienstkreuz verliehen – auf Söders Vorschlag hin. Oduncu: „Da habe ich erst mal Gänsehaut bekommen.“
Oduncu ist Professor an der LMU, leitete 13 Jahre lang die Onkologie am Campus Innenstadt des Klinikums der Universität München und ist seit 2019 Chefarzt am Helios Klinikum München West, wo er die Klinik für Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin aufgebaut hat. Für seine Arbeiten auf den Gebieten der Krebsforschung, Palliativmedizin und Medizinethik bekommt er viel Anerkennung. Außerdem setzt er sich als Präsident der Erich-Frank-Gesellschaft der LMU für die Förderung der Beziehungen zwischen den medizinischen Fakultäten in Istanbul und München ein. „Ich denke, ich habe die Auszeichnung auch bekommen, weil ich eine gewisse Vorbildfunktion habe“, sagt Oduncu. Und fügt an: „Ich will auch Vorbild sein. Zeigen, dass man in diesem Land alles erreichen kann, egal woher man kommt und wie viel Geld man hat.“
Oduncu war diese Woche Gast bei einem Gesprächskreis der bayerischen Integrationsbeauftragten Gudrun Brendel-Fischer (CSU), um anlässlich des Jubiläums „60 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei“ mit Vertreterinnen und Vertretern der ersten, zweiten und dritten Generation türkischer „Gastarbeiter“ die Frage #Gut angekommen!? zu diskutieren. Ab dem 30. Oktober, dem Jubiläumstag, ist das Gespräch unter integrationsbeauftragte.bayern.de abrufbar. Oduncus eigenes Fazit ist so klar wie knapp: „Das Beste am Anwerbeabkommen war, dass es es gab, sonst wären wir heute nicht hier.“ Er fügt an: „Man kann es mit dem wunderbaren Satz von Max Frisch zusammenfassen: ,Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.‘“
Kontakt zu Deutschen? Gab es anfangs gar nicht
Oduncu wurde in Südostanatolien (Midyat) geboren und gehörte dort als Aramäer beziehungsweise Assyrer der christlichen Minderheit an. Er war vier Jahre alt, als die Mutter 1974 mit ihren sechs Kindern dem Vater nach Füssen folgte. Der lebte damals bereits seit drei Jahren als „Gastarbeiter“ im Allgäu. „Dieses unglückliche Wort ,Gastarbeiter‘ drückt schon die ganze Misere aus“, sagt Oduncu. Man war Gast, gehörte nicht dazu. Schließlich sollte man nach zwei Jahren wieder gehen. „Vorgesehen war ein Rotationsprinzip, und auch der Familiennachzug war verboten.“ Das änderte sich erst 1964 auf Druck deutscher Arbeitgeber, die es widersinnig fanden, Arbeiter, die man angelernt hatte, nach kurzer Zeit wieder durch neue zu ersetzen, berichtet Fuat Oduncu.
Oduncus Vater arbeitete in der Füssener Textil AG – und holte seine Familie sofort nach, nachdem er endlich das Stockbett im Männerwohnheim mit einer 50-Quadratmeter-Wohnung tauschen konnte – zu acht lebte die Familie dort. In einem Umfeld, das einem Ghetto glich. „Wir hatten überhaupt keinen Kontakt zu Deutschen“, erinnert sich Oduncu. „Das war eine Wohnsiedlung für Gastarbeiterfamilien.“ Oduncu spielte mit italienischen, jugoslawischen und türkischen Kindern auf der Straße. „Ist das nicht verrückt: Ich habe erst in Füssen Türkisch gelernt“, erzählt Oduncu. „Meine Muttersprache ist schließlich Aramäisch.“ Heute spricht er neun Sprachen.
Oduncu ist ein Überflieger – und deshalb vielleicht auch nicht wirklich repräsentativ, wenn es um das Thema Integration von türkischen „Gastarbeiterkindern“ geht. Und er hat das Glück gehabt, Eltern zu haben, für die die Bildung der Kinder an erster Stelle stand. Der Vater, Analphabet, der nie in der Schule war, weil er daheim auf den Feldern arbeiten musste, ging auch deshalb nach Deutschland, um seinen eigenen Kindern bessere Lebenschancen bieten zu können. Aber Oduncu hat auch die Schattenseiten erlebt. „Integration wurde damals verhindert“, sagt er. „Es gab keinerlei Angebote vom deutschen Staat, man wurde separiert und exkludiert.“ Der Vater blieb Analphabet bis zu seinem Tod.
Vom Hauptschüler zum Einser-Abiturienten
Und auch Oduncu tat sich durch die widrigen Umstände anfangs schwer. „Die Grundschule schaffte ich mit Ach und Krach.“ Die sprachlichen Defizite waren einfach zu groß. Er kam auf die Hauptschule. Doch Oduncu hatte Ehrgeiz, schaffte die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium ein Jahr später und wiederholte die fünfte Klasse. Und hatte 1989 das Abitur in der Tasche – mit 1,0 das beste seines Jahrgangs in Füssen. „Das war so eine Genugtuung“, sagt Oduncu heute.
Und dennoch: Ein Begleiter seines weiteren Lebensweg waren immer wieder auch Diskriminierungen. „Es gab kleinere, mittelgroße und ganz große“, sagt er. Eine „mittelgroße“ zum Beispiel sei gewesen, dass er, als er nach München zum Medizinstudium kam, als nichtdeutscher Student auf ein Wohnheimzimmer vier Semester warten musste. Für deutsche Studenten galt eine Wartezeit von einem Semester – so stand es auf dem Zettel, den er beim Studentenwerk ausgehändigt bekam. Und als er seine Doktorarbeit im Dekanat abgeben wollte, wurde Oduncu abgewiesen mit der Maßgabe, er solle erst einmal nachweisen, dass er der deutschen Sprache mächtig sei. Er, der in Deutschland ein Einser-Abitur gemacht hatte und an der LMU sechs Jahre studierte.
Oduncus Doktorvater Bertold Emmerich half mit einem Schreiben – und Emmerich war es auch, der intervenierte, als Oduncu keine Approbation als Arzt von der Regierung von Oberbayern bekam – weil er damals noch einen türkischen Pass hatte. „Das war etwas, was mich wirklich getroffen hat“, sagt Oduncu. „Was wollen Sie hier, gehen Sie doch zurück in ihr Land“, sagte ihm damals eine Frau am Telefon, deren Namen er bis heute nicht vergessen kann. Erst als Emmerich und der Klinikdirektor dem Regierungspräsidenten von Oberbayern schrieben und Oduncu eine sogenannte Anstellungsnotwendigkeit bescheinigten, bekam er die Erlaubnis. „Es gab immer wieder gute Menschen, die halfen, damit es weiterging“, sagt Oduncu, der heute den beindruckenden Titel Prof. Dr. med. Dr. phil. Fuat Oduncu, MA, EMB, MBA trägt. „Wahnsinn, wenn man bedenkt, wo ich jetzt stehe und was rückblickend alles hätte schieflaufen können“, sagt er.
Vor allem aber ist Oduncu seinem Vater dankbar, dem er auch das Bundesverdienstkreuz widmet. Dass er sich auf den Weg gemacht hat nach Deutschland, in die Fremde. „Als Analphabet – ohne Geld und ohne Sprache.“ Oduncu: „Ich selbst würde mich das niemals trauen.“
(Angelika Kahl)
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