Menschen mit Psychosen haben oft mit Vorurteilen zu kämpfen. Klaus Nuißl (42) klärt in Schulen oder bei der Polizei über Erkrankungen und ihre Auswirkungen auf. Er kennt die Abgründe, in die man plötzlich geraten kann, wenn das Leben außer Kontrolle gerät. Für seinen Einsatz gegen Tabus wurde der Regensburger jetzt mit der Bundesverdienstmedaille geehrt.
Klaus Nuißl kehrt langsam und mit großer Sorgfalt den Dreck auf dem Boden zusammen. Tausende kleine Partikel, die irgendwann aus der Wirklichkeit des Alltags zerfallen und zu Boden gegangen sind. Langsam und ohne Hast ist er in der kleinen Geschäftsstelle des Regensburger Selbsthilfevereins „Irren ist menschlich“ zugange. Der 42-jährige Psychologe ist EX-IN-Genesungsbegleiter. EX-IN ist die Abkürzung für „Experienced Involvement“. Das heißt: Nuißl, selbst ein sogenannter Psychiatrie-Erfahrener, hilft gemeinsam mit Psychiater*innen, Therapeut*innen und Pflegepersonal seelisch Kranken, die Einzelteile ihres Lebens wieder zu einem funktionierenden Ganzen zusammenzufügen. Im Gespräch mit Betroffenen kann er das leisten, was Medizin und Therapie oft nicht leisten können. Hoffnung geben und Vertrauen schaffen. Er weiß, wie es ihnen geht. Nuißl muss keine Empathie vorgeben. Er kennt die Abgründe nur zu gut.
Die Ehrenamtsarbeit ist für ihn selbst eine große Hilfe
Nuißl verschafft aber auch Gesunden Einblicke in das, was passiert, wenn ein Mensch an einer Psychose leidet und in der Psychiatrie behandelt wird. Oft ein Leben lang, immer wieder. Noch immer leiden Menschen unter Ausgrenzung und darunter, nicht zu funktionieren, wenn die Seele krank wird. Klaus Nuißl kämpft gegen das Stigma und Tabus in einer durchoptimierten Gesellschaft und für eine moderne Psychiatrie, die ihren Patienten gerecht wird. Da sei noch einiges zu tun, sagt er. Für seine Arbeit für einen offenen Umgang mit seelischen Erkrankungen hat er vor wenigen Wochen die Bundesverdienstmedaille erhalten. „Natürlich habe ich mich darüber sehr gefreut“, sagt er. Denn trotz aller Rückschläge in seinem eigenen Leben beschreibt er sich doch selbst als ehrgeizig. Vor allem aber wollte er eines nicht: Opfer einer Krankheit werden, der er im akuten Zustand gänzlich ausgeliefert ist. In den Zeiten jenseits der akuten Phasen einer Psychose wollte er gut leben und etwas für diejenigen tun, die in und mit der Psychiatrie leben müssen.
Dass ihm das gelingt, verdankt er umsichtigem Arzt- und Pflegepersonal. Menschen, die sich nicht mehr versteckt haben wie Dorothea Buck, 2019 verstorben. Buck ist Gründerin des Trialogs, einer Organisation, die Betroffene, Therapeuten und Angehörige ins Gespräch bringt. Er lernte die alte Dame während eines Aufenthalts in der Psychiatrie kennen. Sie empfahl ihm, offensiv mit seiner psychischen Erkrankung umzugehen. „Diese Auszeichnung habe ich stellvertretend für all jene entgegengenommen, die sich für mehr Akzeptanz und Verständnis seelisch kranker Menschen einsetzen“, betont Nuißl.
Der Regensburger ist ein unaufgeregter und freundlicher Mann. Vieles in seiner Krankheitsgeschichte wirkt fremd, schwer vorstellbar. Genau dort setzt er an, wenn er vor Schüler*innen, Sozialarbeiter*innen oder Polizist*innen von seiner Krankheit berichtet. Menschen ohne Psychiatrie-Erfahrung haben selten Zugang zu den oft extremen Zuständen von Panikattacken, der Lähmung und Dunkelheit einer Depression oder dem Selbstzerfall einer Ich-Störung. Was man nicht versteht, ist schwer zu akzeptieren. Deshalb will Nuißl aufklären und hält seit 2011 Vorträge. „Es kann wirklich jeden treffen“, sagt er. Nuißl selbst fiel meist in eine Depression. Seit er weiß, wie die Krankheit verläuft, bekommt er das in den Griff.
Als Nuißl 1998 sein Abitur erfolgreich abschloss, deutete wenig darauf hin, dass ihm sein Leben entgleiten könnte. Doch schon am Ende seiner Grundwehrdienstzeit in der Nähe von Rosenheim machten sich erste Anzeichen bemerkbar. Wachdienste mit häufigen Ablösungen brachten seinen Tag-Nacht-Rhythmus aus dem Gleichgewicht. Gleichzeitig geriet er in eine erste Identitätskrise. Wer bin ich eigentlich? Was will ich mit meinem Leben anstellen? Fragen, die sich viele junge Menschen stellen – und auf die er zunächst keine Antworten hatte. Nuißl war damals 19 Jahre alt.
Mit einem Schulfreund brach Nuißl im VW Bus über Gibraltar nach Afrika auf. „In Italien sind wir hängen geblieben“, erzählt er und lacht. Seine Sinnsuche, die intensiven Gedanken und das Leben ohne festen Rahmen führten ihn in eine erste psychotische Episode. Er begann in seiner eigenen Welt zu leben. „Anfangs wirkte alles so dicht. Ich habe zunächst sehr positive Gefühle empfunden.“ Kreativ, fantasievoll. Das geht vielen Menschen ähnlich und muss noch keine seelische Erkrankung sein. Doch er spürte: Da kippt etwas – tief in ihm drin.
„Ich hatte das Gefühl, andere könnten meine Gedanken lesen und ich könnte deren Gedanken lesen. Jeder Moment schien geheimnisvoll aufgeladen“, erzählt Nuißl. Alles schien in Ordnung. Bis seine Gedanken immer schneller wurden, er kaum noch zur Ruhe kam und keinen Schlaf mehr fand. Dazu kamen Wahngedanken. „Ich dachte, das Wetter würde mit mir in Beziehung stehen. Alles würde mit mir eins sein.“ Die Grenzen lösten sich auf. „Ich wusste nicht mehr: Wo fange ich an? Wo hört der andere auf?“ Ein Zeichen für eine „Ich-Störung“, erklärt er. „Mir hat der Zustand zunehmend Angst gemacht.“ Die Psychose begann in dem Augenblick, als aus fantasievollem Wahn in nur wenigen Wochen vermeintliche Gewissheiten wurden. Nuißl beschreibt die Situation als massive Panikattacke. „Ich wusste nicht mehr ein noch aus.“ Die Freunde waren schnell an seiner Seite und brachen den Urlaub ab.
Nuißl glaubte, er sei Jesus – und sprach nur mit Heiligen
Nuißl war damals ein ganz normaler junger Mann aus gutem und sicherem Elternhaus. Er hatte Freunde und belastbare soziale Beziehungen. Und doch lautete die Diagnose später: Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis. Mit 19 Jahren wurde er erstmals in einem psychiatrischen Krankenhaus behandelt. Vier weitere leidvolle Aufenthalte sollten folgen. Immer wieder bildete er Wahnvorstellungen aus. Einige davon waren stark religiös geprägt. Bei einem Aufenthalt glaubte er Jesus zu sein. „Ich habe damals auch meine Mitpatienten genervt“, erzählte er einmal einem Journalisten. Er habe sie nie nur mit dem Vornamen angesprochen. Immer stellte er dem Namen ein „Heiliger“ oder „Heilige“ voran. Er ließ sich sogar freiwillig fixieren, weil der Vorgang ihn an die Kreuzigung Jesu erinnerte. Diese Episoden waren ihm in symptomfreien Zeiten entsetzlich peinlich. Heute ist der Glaube für den praktizierenden Katholiken „eher Teil der Heilung“, sagt er. Wie das Wandern oder ein geringes Maß an Neuroleptika. Die Medikamente regeln den Dopaminstoffwechsel. Bei einer Psychose, erklärt er, geht man davon aus, dass es ein Zuviel an Dopamin gibt.
Trotz der schweren psychotischen Erkrankung schaffte Nuißl den Abschluss seines Psychologiestudiums ohne weitere Episoden. 2013 konnte er wieder arbeiten, zunächst beim Regensburger Sozialteam, einem freien Träger. Seit 2016 arbeitet er am Bezirksklinikum mit Psychiatrie-Erfahrenen. Seine Kompetenz als Insider ist ein wichtiges Bindeglied zwischen Medizin und Patient*in. Er vermittelt Betreuungsangebote, Hilfe bei Anträgen und rechtlichen Fragen. Oft hilft er aber auch einfach mit Gesprächen während eines Spaziergangs. „Ich sehe mich auch ein bisschen als Mädchen für alles“, sagt Nuißl.
Nuißl, Vorstand des Vereins Irren ist menschlich, bildet außerdem Betroffene zu Genesungsbegleitern aus. „Der Erfolg dieser Anti-Stigma-Arbeit tut auch mir gut“, sagt er. Er weiß heute, sein Leben hat einen Sinn. Ein wichtiger Schritt dahin war für ihn die ehrenamtliche Arbeit. „Sie hat mich stabilisiert“, sagt er. „Ich habe mich irgendwann bewusst entschieden: Ich gehöre auch zu den Psychiatrie-Erfahrenen. Vielleicht werden sie belächelt. Aber das sind meine Leute und da fühle ich mich wohl.“ Und er hilft vielen mit psychotischen oder depressiven Krisen, den Kopf zu heben und mit der Krankheit selbstbestimmt zu leben.
(Flora Jädicke)
Kommentare (1)