Leben in Bayern

Julius Misdziol, Erzieher im Anerkennungsjahr, ist ein gutes Beispiel. Er war vorher Logistiker bei einem großen bayerischen Autohersteller. (Foto: Flora Jädicke)

10.01.2025

Kitas ohne Fachkräfte

In bayerischen Kitas arbeitet im Bundesvergleich besonders viel Hilfspersonal – das gefällt nicht allen

Es ist der letzte Tag vor den Ferien bei den Regensburger „Königsmäusen“ im integrativen Kinderhaus des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Vom obersten bis zum untersten Stockwerk herrscht ein ordentliches Getöse. Insgesamt sieben Fachkräfte, Erzieher, Kinderpfleger, eine Logopädin, eine Integrationsfachkraft und eine Hauswirtschafterin kümmern sich an diesem Tag um die Kinder. 

Das fröhliche Chaos jenseits ihres Büros sei ein sehr geordnetes Chaos, versichert Anja Hofmann, die Leiterin der offenen Kindertagesstätte. Anders als viele andere Kitas verfügt sie über ausreichend Fachpersonal. „Unsere Eltern können sich darauf verlassen, dass ihre Kinder von einem gut ausgebildeten Team betreut werden.“ Deutschlandweit und erst recht in Bayern ist das eher die Ausnahme.

In einer Regensburger Kita der Evangelischen Kirche versorgen zwei Beschäftigte die Kinder. Eine junge Frau, die seit Monaten die Einrichtung nur kommissarisch leitet, kämpft nicht nur gegen einen hohen Krankenstand. Eigentlich will sie sich am Telefon nicht äußern und auch nicht namentlich erwähnt werden. „Die Kitas sind absolut am Limit.“ Daran werde wohl auch der Einstieg von fachfremdem Personal wenig ändern. So viel sagt sie dann doch – und dass sie gekündigt hat zum Jahresende. 

Interimsleiterin kündigt zum Jahresende

Die Kita-Krise ist inzwischen eine doppelte. Es fehlen nicht nur neue Fachkräfte. Inzwischen wandert bewährtes Fachpersonal ab. Bayern ist bei der Fachkraftquote laut dem „Ländermonitor Frühkindliche Bildungssysteme“ der Bertelsmann Stiftung das Schlusslicht im Ländervergleich. An zweiter Stelle kommt Hamburg mit 16 Prozent. Auf die höchste Fachkraftquote kommt der Studie zufolge Thüringen mit 89 Prozent. Bundesweit liegt sie bei 32 Prozent. Das Bundesfamilienministerium empfiehlt laut der Studie, die Fachkraftquote zunächst auf 72,5 Prozent in jedem Kita-Team anzuheben. Langfristig werden 85 Prozent angestrebt. 

In Bayerns Sozialministerium hält man eine Fachkraftquote von 50 Prozent für ausreichend – die man aktuell aber auch nicht erreicht. Bislang haben die Bemühungen des Freistaats, neue Fachkräfte zu gewinnen, kaum durchgeschlagen.

Ursache für den stetig wachsenden Bedarf an qualifiziertem Personal ist neben der gestiegenen Anzahl von Kindern die zu geringe Neuausbildungsquote. Nach Berechnungen der Bertelsmann Stiftung brauchen Kitas deutschlandweit 98 600 Erzieherinnen und Erzieher, um die gesetzlich garantierte Kinderbetreuung zu gewährleisten. Bereits 2023 fehlten in bayerischen Kitas 14 500 Fachkräfte. 2025 sollen es laut Prognosen der Stiftung 17 100 werden. Bis 2030 rechnet man sogar mit 53 600 fehlenden Fachkräften.

Dieser Entwicklung will der Freistaat im Rahmen der Fachkräfte-Initiative für pädagogisches Personal mit der Ausbildung von Quereinsteigern entgegenwirken. In drei Modulen, kombiniert mit einer Praxisstunde pro Woche, können sich Interessierte seit Herbst 2022 zu sogenannten Assistenz-, Ergänzungs- und schließlich Fachkräften in Kindertagesstätten weiterbilden. Die Ausbildung übernehmen meist privatwirtschaftliche Institute und sogenannte Multiplikatoren. Auch die Prüfungen werden unabhängig von staatlichen Instituten bei den Ausbildungskräften absolviert. Das Sozialministerium verspricht sich davon „viel Praxisbezug bei hoher Qualität“.

Die Fachakademien sehen diese Qualität nicht. Harsche Kritik kommt auch von Eltern- und Kita-Verbänden und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Zu kurz, inhaltlich zu schwach, wenig transparent, lauten die Kritikpunkte. Es sei absurd, als Schlusslicht in Deutschland jetzt noch eine Weiterbildung für Quereinsteiger zu machen, bei der „dann die Assistenzen der Assistenzen ausgebildet werden“, empörte sich etwa Gewerkschaftssekretär Mario Schwandt im Interview mit BR24.

Von der Automobilbranche in den Kindergarten

Auch die Regensburger Kita-Leiterin Anja Hofmann sieht den Vorstoß der Landesregierung ambivalent. „Viele Biografien über Umwege, auch die eigene, zeigen: Gute Arbeit ist möglich“, sagt sie. Da will auch der Paritätische Wohlfahrtsverband die Tür nicht zumachen.

Auch in Hofmanns eigenem Team geben Laufbahnen wie die von Julius Misdziol, Erzieher im Anerkennungsjahr, ein gutes Beispiel ab. Er war vorher Logistiker bei einem großen bayerischen Autohersteller. „Aus meiner mehr als 20-jährigen Erfahrung als Erzieherin und Leiterin einer Einrichtung weiß ich aber auch, es braucht Zeit, viel fachliches Wissen und Erfahrung, um eine qualifizierte Erzieherpersönlichkeit zu entwickeln und den vielfältigen Herausforderungen, die diese Kindergeneration mitbringt, gerecht zu werden“, sagt Hofmann.

Zu den neuen Herauforderungen gehöre zunehmend auch ein ungesundes und unreflektiertes Medienverhalten von Eltern und Kindern. Fachleute machten dieses Verhalten auch für bestimmte Formen von frühkindlichem Autismus verantwortlich, ergänzt Samantha Dankesreither. Sie ist Erzieherin und heilpädagogische Mitarbeiterin im PariKita Fachdienst bei den Königsmäusen. Genau dort hapere es aber bei der neuen modularen Weiterbildung für Quereinsteigende, so Hofmann.

Kritik kommt auch vom Verband Kita-Fachkräfte Bayern. „Es freut uns, dass wir in den Kitas Unterstützung erhalten“, sagt deren Vorsitzende Veronika Lindner. Doch Assistenzkräfte sollten aus ihrer Sicht nur als Ergänzung und nicht als Ersatz für ausgebildete Kräfte gesehen werden. Zum Vergleich: Die Quereinsteiger haben nur 200 Unterrichtseinheiten in einem nicht schulischen und wenig kontrollierten Setting anstatt der 2000 Unterrichtseinheiten für die Kinderpflege oder gar mehr als 2440 Unterrichtseinheiten für Erzieherinnen und Erzieher in den regulären Ausbildungen. Die Kitas bräuchten laut Lindner mehr gut ausgebildete Kräfte, die auch wichtige Bildungsaufgaben, Elternarbeit, Dokumentation übernehmen können. Dazu sollten sie „ein breites Wissen in den vielen verschiedenen Arbeitsfeldern haben und in den Herausforderungen, mit denen wir täglich kämpfen, zum Beispiel Inklusion und Migration“. Jeder Euro, der in der frühen Kindheit investiert wird, zahle sich im weiteren Leben aus, etwa bei der Chancengerechtigkeit, psychischer Gesundheit, Demokratiebildung und den sozial-emotionalen Fähigkeiten. 

Stefan Heier vom Bayerischen Elternverband sieht das ähnlich. „Kitas sind keine Überwachungseinrichtungen, aus denen das Kind abends bestenfalls lebend rauskommt. Defizite, die in der Kita nicht ausgeglichen werden, nehmen die Kinder mit in die Schule.“ Die 2 Milliarden Euro für das Kita-Qualitäts- und -Teilhabeverbesserungsgesetz aus dem Bundeshaushalt 2025, auf den sich die AmpelRegierung noch geeinigt hatte, sei ein erster Schritt. Allerdings biete die lediglich auf zwei Jahre festgelegte Finanzierung keinerlei Planungssicherheit. Mindestens 6 Milliarden Euro wären nötig, so Heier, verbunden mit einer langfristigen Perspektive, um die Qualitätsstandards zu halten. „Eine wohlhabende Gesellschaft wie die unsere muss das hinbekommen.“ 

Kritik von Vorsitzender der Wirtschaftsweisen

Bei den Königsmäusen in Regensburg ist es inzwischen vorweihnachtlich still geworden. „Wenn es keine ordentliche Kinderbetreuung gibt, gibt es auch keine ordentliche Wirtschaft“, findet Leiterin Hofmann. Dieser Ansicht ist auch die Vorsitzende der Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer. „Mit einer verlässlicheren Betreuung könnte man viel zusätzliche Arbeitszeit gewinnen“, erklärt sie und kritisiert die Unzuverlässigkeit des deutschen Kita-Systems. Um es zu stärken, brauche es vor allem mehr Geld und mehr Personal, fordert die Mutter dreier Kinder. (Flora Jädicke)
 

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