Der neunjährige Raphael lebt im Kreis Warendorf in Nordrhein-Westfalen. Wegen des Corona-Ausbruchs bei der Fleischfabrik Tönnies wurde dort erneut der Lockdown verhängt – und die Schulen abermals geschlossen. Dank Chemiestudent Tobias Wagner aber kann Raphael den Unterricht nachholen. Der Münchner ist einer von 9500 Studierenden, die ehrenamtlich Nachhilfe geben.
Auf den Bildschirmen bekommt man derzeit so mancherlei Einblick in das Privatleben anderer. Im Wohnzimmer der Familie Tiffert springt zum Beispiel eine Katze gerne auf den Schoß des neunjährigen Raphael oder spaziert hinten im Bild vorbei, während vorn kräftig das Einmaleins geübt wird. Tobias Wagner kann das von München aus mitverfolgen, auf seinem Laptop. Der 23-jährige Chemiestudent sieht auch, wenn Raphael ein bisschen unkonzentrierter wird und etwas anderes seine Aufmerksamkeit fesselt. Nur was es ist, das sieht er nicht.
Ein Mathe-Student (22) gründete die Plattform
Raphael ist Wagners Nachhilfeschüler in Mathe, er geht in die dritte Klasse. Vielmehr: Er ginge. Aber jetzt ist Corona-Zeit, keine gute Phase im Leben eines Neunjährigen, der, wie man mit gutem Grund sagen kann, Hummeln in der Hose hat. Die Familie lebt in Nordrhein-Westfalen, im Kreis Warendorf, wo man gerade wegen des Ausbruchs von Corona bei der Fleischfabrik Tönnies erneut in den Lockdown ging. Das hat abermals „alles ein bisschen durcheinandergeschmissen“, wie seine Mutter Michaela Tiffert, die außer Raphael noch ein acht Monate altes Baby hat, am Telefon erzählt. „Da hatte ich dann zwei nörgelige Kinder zu Hause.“
Ganz einfach ist der Schulalltag der Tifferts ohnehin nicht. Raphael leidet unter einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung und unter Dyskalkulie. Weil er sich so leicht ablenken lässt und in Rechnen einfach nicht gut ist, bangt seine Mutter jetzt nicht nur darum, wie sie das Kind Tag für Tag ausreichend beschäftigt, sondern macht sich auch um seine schulische Zukunft Sorgen. Es ist ja so viel Unterricht ausgefallen, durch Corona.
Im April allerdings hörte sie im Radio von dem Angebot der Corona School, meldete sich flugs auf der Homepage corona-school.de an und machte rund zwei Wochen später per Videochat die Bekanntschaft mit Tobias Wagner, der an der Ludwig-Maximilians-Universität in München studiert. Seine beiden Laborpraktika fielen dieses Semester aus, die Prüfungen sind verschoben. Tobias Wagner, der eigentlich in diesem Sommer seinen Bachelor durchziehen wollte, fragte sich darum nicht nur, was das für seinen Abschluss bedeutet, er hatte auf einmal auch sehr viel Zeit. Und weil es für ihn selbstverständlich ist, Ehrenämter zu bekleiden, meldete er sich als Nachhilfelehrer auf der Plattform der Corona School an – und fand mehrere Schüler*innen deutschlandweit, die sich seither von ihm unterstützen lassen. Manche von ihnen nur für ein paar Stunden, um ein ganz bestimmtes mathematisches oder chemisches Problem zu klären, andere regelmäßig. Zwei haben sich bereits in die Ferien verabschiedet. Raphael nicht. Er soll am Ball bleiben, findet seine Mutter, er hat so viel verpasst.
Tückisch ist ja nicht nur die Multiplikation. Schon das Aufstehen am Morgen fällt schwer, wenn man am Tag so gar nichts vorhat. Das geht Erwachsenen so, aber natürlich auch Kindern, denen Struktur fehlt. So aber sitzt ihr Sohn immerhin einmal pro Woche mit dem Münchner Studenten zusammen und hat ein bisschen Schule, über mehrere Bundesländergrenzen hinweg.
Angeschoben hat die kostenlose Nachhilfeplattform ein junger Mann aus Bonn: Tobias Bork, vor Kurzem noch Hilfswissenschaftler am Fraunhofer-Institut für Algorithmen und Wissenschaftliches Rechnen SCAI. Der 22-jährige Mathematiker hatte gerade seinen Bachelor abgelegt, Thema: Maschinelles Lernen. Dann kam Corona. Das Lernen zu Hause, das war Bork klar, ist für Schüler nicht einfach. Denn wenn Schulen coronabedingt geschlossen haben und der Unterricht nur noch online stattfindet, bleibt die persönliche Betreuung auf der Strecke. Lehrer und Eltern können während der Corona-Krise nicht auf die individuellen Probleme der jungen Leute eingehen, weil ihnen entweder die nötige Zeit oder das Wissen fehlt. Darum bestand und besteht die Gefahr, dass gerade schwächere Schüler den Anschluss verpassen und zugleich ein Stück Chancengerechtigkeit verloren geht.
Was aber, wenn Studierende bereit wären, mit ihren Fachkenntnissen auszuhelfen? Und die Kinder und Jugendlichen zu unterstützen? Mithilfe einer Lernplattform, die es möglich macht, per Videochat kostenlosen Nachhilfeunterricht zu erteilen? Die Idee war da. Und Bork legte los, zusammen mit ein paar Freunden aus dem Fraunhofer-Institut. Und das Projekt wurde ein Erfolg auf ganzer Linie. 12 500 Schüler*innen und 9500 Studierende sind inzwischen registriert, 7000 aktive Lernpaare haben sich auf der Plattform gefunden. Und täglich kommen neue dazu.
In den Ferien werden Sommer-AGs angeboten
Im Prinzip ist alles ganz einfach: In einem ersten digitalen Gespräch lernt man einander kennen, bespricht Aufgaben und offene Fragen und startet eine Unterhaltung per Videochat. Wenn es gefunkt hat, bleibt man zusammen. „Wir sind überzeugt, dass es in diesen Zeiten nicht ums Geld, sondern um Solidarität gehen sollte“, heißt es auf der Plattform.
Eine knifflige Frage allerdings bleibt: Wie matcht man Schüler und Studierende am besten? Tobias Bork, der vor allem die technische Entwicklung der Plattform unterstützt, schreibt den entsprechenden Algorithmus. Wertet Feedback aus. Und überlegt, wie sich das Konzept erweitern lässt. Für die Ferienzeit bietet die School jetzt zum Beispiel Sommer-AGs an. „Ich bin ein Freund davon, Dinge auszuprobieren und in der Praxis anzuwenden“, sagt Bork. Seine Begeisterung ist noch immer ungebrochen. „Mir macht das sehr viel Spaß, es ist unglaublich vielfältig, und ich kann die zukünftige Entwicklung der Corona School mitgestalten.“ Höchstwahrscheinlich werde es die Schule auch dann noch geben, wenn das Virus mit Impfungen und Medikamenten in Schach gehalten werden könne. „Da ist noch ganz viel in der Entwicklung.“
Michaela Tiffert wiederum ist Raphaels Nachhilfelehrer Tobias Wagner so dankbar, dass sie sich manchmal regelrecht unwohl fühlt. Der allerdings findet die Hilfe, die er leistet, völlig selbstverständlich. Nachhilfe gibt er schon lange, mal bezahlt, mal unbezahlt. Zwei Jahre lang hat er ehrenamtlich in der „Studenteninitiative für Kinder e.V.“ Waisenkinder und unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in München unterrichtet. „Es motiviert mich immer, zu sehen, dass die Schüler etwas verstehen, das ich ihnen erklärt habe“, erzählt er. „Anderen zu helfen ist mir ein Anliegen, so bin ich erzogen; wenn man die Möglichkeit zu helfen hat, hilft man.“ Was sein Studium angeht, fährt er derzeit auf Sicht, „das hat man inzwischen so gelernt“. Wer weiß schon, wie es im Sommer weitergeht. Dafür sieht er bereits Fortschritte bei seinem Schüler Raphael. Die Grundlagen, sagt er, laufen zwar noch nicht perfekt, aber schon ein ganzes Stück besser. Da helfe nur: regelmäßiges Üben. (Monika Goetsch)
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