Leben in Bayern

Quasi auf der grünen Wiese wurde ab den späten 1920er Jahren die Siedlung Neu-Ramersdorf errichtet. (Foto: Buch)

29.01.2010

Luxuswohnungen für Arbeiterfamilien

Die Siedlung Neu-Ramersdorf ist nach 90 Jahren wieder im Fokus Münchner Wohnungsbaupolitik

Das waren Luxuswohnungen, da heraußen!“, schwärmt Frau Bauer, die seit 70 Jahren in Neu-Ramersdorf wohnt. Ja, damals war das wirklich ein gigantischer Sprung in die moderne Wohnwelt, als man sich über ein eigenes WC in der Wohnung, gar noch eine Badewanne daneben freuen konnte, das Wasser nicht mehr eimerweise von draußen holen musste, sondern in der Küche und im Bad den Hahn einfach aufdrehte. Dass dann nur kaltes Wasser rauskam, war da fast schon nebensächlich – freilich erinnert sich die heute Neunzigjährige auch ans Frieren, wenn kein Geld für Heizmaterial da war. Wer in der Siedlung Neu-Ramersdorf wohnte, war nicht reich. 43 Quadratmeter groß ist Frau Bauers Wohnung, zu fünft haben sie früher darin gewohnt. 36 Mark Miete wollten in den 1940er Jahren erst einmal verdient sein – ihr Mann bekam 35 Mark die Woche. Luxus hin oder her: „Heute gefällt mit nichts mehr an diesem Viertel“, sagt die alte Dame, „aber ich muss notgedrungen dableiben.“ Die frühere Infrastruktur mit den vielen kleinen Läden, das „Wir-Gefühl“ einer sozial relativ homogenen Bewohnerschaft, der Tratsch im Treppenhaus, durch das die Kinderstimmen nur so hallten ... All das ist auf ein Minimum geschrumpft. Es ist ruhig, geworden in den Siedlungshäusern, die Bewohnerschaft ist überaltert, leidet unter Einsamkeit: „Wenn man bedenkt, wieviel Leut eine Wohnung suchen, und hier wohnt überall nur einer in den großen Wohnungen“, wundert sich Frau Hofer, die seit 1929 dort lebt. Andererseits sind ganz neue Bevölkerungsgruppen zugezogen: In manchen Gegenden des Quartiers ist der Ausländeranteil auf bis zu 45 Prozent gestiegen. Soziale Ausgrenzung ist eines der Schlüsselworte geworden. Das Miteinander, das die Siedlungsatmosphäre einmal wesentlich geprägt hat, funktioniert nicht mehr. Und so steht das einstige Renommierprojekt, das im Münchner Osten quasi auf der grünen Wiese zwischen der heutigen Rosenheimer Straße und dem Innsbrucker Ring ab 1929 hochgezogen wurde und günstigen Wohnraum vor allem für kinderreiche Arbeiterfamilien bot, heute abermals im Fokus städtischer Wohnungsfürsorge: Es sind umfassende Sanierungsarbeiten in Vorbereitung, die einerseits den Wohnstandard zwar nicht auf ein neues Luxusniveau, aber doch aufs „Zeitgemäße“ heben sollen (dabei geht es auch um die energetische Optimierung). Andererseits hat man sich auf die Fahnen geschrieben, barrierefreien Wohnraum für junge Familien, behinderte und ältere Menschen zu schaffen. Die Gemeinnützige Wohnungsfürsorge A.G. München (GEWOFAG), die 1926 den Auftrag zur Durchführung des „Münchner Sonderprogramms“ erhalten hatte, führte einen Ideen- und Realisierungswettbewerb durch, der im November 2009 entschieden wurde: Mit dem ersten Preis wurde das Konzept von bogevischs büro ausgezeichnet. Die Siedlung Neu-Ramersdorf mit nahezu 24 000 Menschen ist inzwischen eines von über 520 Sanierungsgebieten im Programm „Soziale Stadt“, das im Rahmen der Städtebauförderung von Bund, Ländern und Gemeinden getragen wird. Auf der Agenda stehen soziale und städtebauliche Maßnahmen: Es geht um Lärmschutzbebauungen, die Aufwertung von Plätzen, die Umgestaltung von Straßen, die Gewerbeentwicklung und Projekte zu Gesundheit, Umwelt, Bildung und ums Zusammenleben. Man will der Tendenz entgegenwirken, dass sich ganze Stadtteile von der Entwicklung der übrigen Stadt abkoppeln. Es soll wieder Leben, nachbarschaftlicher Geist in die verödeten Siedlungsreihen einziehen: Über Identifikation Heimatgefühl ermöglichen Maßnahmen von der Stange quasi nur abzuhaken kann allenfalls einen kurzzeitigen Effekt haben. Die „Projektgemeinschaft Quartiersmanagement Soziale Stadt Ramersdorf/Berg am Laim“ geht die Probleme vom Innern her an, geht auf die Betroffenen zu, versucht sie zu sensibilisieren und zu motivieren. Eine gute Grundlage dafür ist das im Volk Verlag erschienene Buch Unsere Jahre in Ramersdorf und Berg am Laim. Die Siedlung Neu-Ramersdorf und ihre Geschichte von Erich Kasberger, das in enger Zusammenarbeit mit der Projektgemeinschaft entstanden ist. Viele Bilder (auch aus Privatalben) begleiten den kurzweiligen Gang durch die rund neunzigjährige Geschichte dieses Kapitels städtischer Siedlungspolitik, die ihren Anfang nahm als Antwort auf die einstmals desaströse Wohnungssituation. Es geht aber nicht nur um die äußeren Details der Stadtpolitik oder architektonischer Formfindung: Durchwoben ist dieser faktische Abriss von vielen Erinnerungen und Eindrücken alter Bewohner, die zum Teil schon ihre Kindheit in dem Viertel verlebten. Dazu hat die Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften an der Hochschule München ein Interviewprojekt durchgeführt: Studierende befragten Menschen, die schon seit vielen Jahrzehnten dort wohnen, zu ihrem Leben in der Siedlung: Die Alten erzählen von ihrer Kindheit in engen Zimmern und vom Spielen draußen in einer schier unbegrenzten Abenteuerlandschaft. Sie erinnern sich an die Kriegsjahre, an den Bau der „Ami-Siedlung“ in unmittelbarer Nachbarschaft, der neue Maßstäbe im „luxuriösen“ Siedlungsbau zeitigte. Diese O-Töne umkleiden ideal das bloß Faktische, lassen die Atmosphäre und das Wesen eines „typischen“ Siedlungsbaus lebendig werden. (Karin Dütsch) Erich Kasberger, Unsere Jahre in Ramersdorf und Berg am Laim, Volk Verlag, 204 Seiten, 16,90 Euro.

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