Leben in Bayern

Das neue Schuljahr in Bayern beginnt am kommenden Dienstag. Die meisten Veränderungen gibt es an den Grundschulen. (Foto: dpa/Bernd Weißbrod)

06.09.2024

Macht eine Stunde mehr den Unterschied?

Nach dem Pisa-Schock starten die Grundschulen am Dienstag mit zusätzlichem Deutsch- und Matheunterricht – ob das hilft?

In der Grundschule der Domspatzen in Regensburg herrscht ungewöhnliche Stille. Nur eine Handvoll Handwerker bearbeiten letzte Baustellen. Eine Woche vor Schulbeginn feilt auch Rektorin Petra Stadtherr an Lehrplänen, studiert Stundentafeln und Aktennotizen mit neuen Richtlinien für den Deutsch-, Mathematik- und Schwimmunterricht. Zukunftsbaustellen, die die Staatsregierung, bestehend aus CSU und Freien Wählern, bereits im Koalitionsvertrag für die Grundschulen aufgemacht hat. 

Das Kultusministerium will mehr Sprachförderung und frühere Sprachtests, mehr Mathematik- und Schwimmunterricht für die rund 134.000 Erstklässler*innen dieses Jahr in Bayern. Damit reagiert die Politik auf die zunehmend schlechten Ergebnisse in den Bildungsstudien wie Pisa. Die Anzahl der Stunden und Lehrkräfte aber bleibt gleich. Rektorin Stadtherr ist froh, dass sie unter diesen Bedingungen dennoch allen Anforderungen gut begegnen konnte. 

„Unsere Lehrkräfte bereiten derzeit den vertieften Deutsch- und Matheunterricht vor“, erklärt Stadtherr. An der Privatschule wird viel Wert auf musisch-musikalische Bildung gelegt. Daher war klar, dass die Musik weiter ein Schwerpunkt sein wird. Dafür gibt es eine Stunde weniger Werken und Gestalten.

Die Grundschule der Domspatzen fällt hinsichtlich der Deutschkompetenzen und Sprachtests etwas aus dem Rahmen. „Dieses Thema betrifft unsere Privatschule nicht so stark wie staatliche Schulen“, erklärt Stadtherr. „Wir wählen die Kinder in erster Linie nach ihren musikalisch-stimmlichen Anlagen aus. An unserer Schule sprechen auch alle Eltern zu Hause Deutsch.“

70 Prozent haben einen Migrationshintergrund

Das kennt Ralf Sattler, Co-Rektor an der Nordschule in Kempten, nur von früher. Wenn der Allgäuer vor seinen Buben und Mädchen steht, sind darunter nicht wenige, die zu Hause zum Beispiel nur Russisch sprechen, obwohl die Eltern seit 30 Jahren in Deutschland leben. 70 Prozent seiner Kinder haben einen Migrationshintergrund. Aber auch deutsche Kinder kämen mit immer mehr sprachlichen Defiziten an die Schule, klagt Sattler. „Ob jetzt die eine Stunde Deutsch mehr den Unterschied macht?“ Da hat er seine Zweifel. Wesentlich sinnvoller fände er eine verbindliche Frühförderung von Kindern mit Sprachdefiziten. Denn die Bildungsschere gehe bereits vor dem Eintritt in die Schule weit auseinander, weil die Förderung in dieser Zeit in aller Regel von den Eltern abhängt. 

Künftig soll schon 18 Monate vor der Einschulung die Sprachkompetenz aller bayerischen Kinder festgestellt werden, überwiegend im vorletzten Kita-Jahr. Fallen dabei Defizite auf, müssen die Kinder zur gezielten Förderung in eine Kita mit einem Vorkurs Deutsch wechseln. Ministerpräsident Markus Söder (CSU) kündigte im Namen der Integration via X bereits ein „verpflichtendes Vorschuljahr“ an, sollte es Nachholbedarf geben. Das würde vor allem Kinder treffen, die bis dahin keine Kita besucht haben.

„Zu wissen, wo stehen die Kinder, ist wichtig“, sagt Christiane Strom, Rektorin der Elias-Holl-Grundschule in Augsburg. Neu sei, dass die Grundschulen neben der bisherigen Sprachstandserhebung in der Kita miteingebunden werden. Bislang haben die Grundschulen aber noch keine konkreten Vorgaben, wie das ablaufen soll. Eine erste Erhebung soll Anfang 2025 für den Jahrgang 2026 stattfinden.

Auch an der Augsburger Elias-Holl-Grundschule werden Erstklässler künftig sechs Stunden Deutsch und fünf Stunden Mathe pauken. „Mehr Deutsch und mehr Mathe – ja“, sagt Strom. „Aber es geht auch um Inhalte und Methoden. Darum, dass wir Ruhe ins Lernen bringen. Einfach mal üben, konzentrieren und zuhören.“ Insbesondere die Leseförderung sei wichtig. Sie sei die Basis für alle anderen Lernprozesse. Strom empfiehlt: „Wir sollten einen Weg raus finden aus der lauten und schnellen digitalen Welt. Digital ist wichtig.“ Daran will sie nicht rütteln. „Aber in Maßen.“ Strom setzt auf traditionelle Tugenden. „Eine Handschrift bildet man nicht am Tablet aus.“

Zusätzlich zur individuellen Förderung empfiehlt auch die Ständige Wissenschaftliche Kommission grundsätzlich für alle Kinder in der Grundschule, die „Quantität und Qualität der aktiven Lernzeit für den Erwerb sprachlicher und mathematischer Kompetenzen“ zu verbessern. Dazu bietet das Kultusministerium ein Paket an fachlichen Hilfestellungen an. Es sei aber auch klar: Wenn die Stundenzahl erhöht werde, brauche es auch mehr Stunden für die Lehrkräfte, ergänzt Strom. Bislang komme sie aber an ihrer Schule zurecht. „Das Zauberwort heißt Flexibilität.“

Die Opposition fordert, mehr Lehrkräfte einzustellen

Lehrer*innenverbände und die Opposition aus SPD und Grünen sind sich aber einig, dass mehr Lehrkräfte auch eine bessere Förderung der Kinder garantieren würden. Der Fachkräftemangel sei die eigentliche Stellschraube, an der die Söder-Regierung drehen sollte, fordern sie.
Auch die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV), Simone Fleischmann, fordert gegenüber Medien mehr Lehrpersonal und warnt mit Blick auf das Sprachscreening vor Ausgrenzung. „Wenn ein Kind das nicht besteht, wollen wir da auch schon wieder Kinder in bestimmte Schubladen packen?“ Die Schulen wollten auch diesen Kindern gerecht werden. „Das könnten wir auch, wenn wir entsprechendes Personal hätten.“

Für Fleischmann ist vor allem eine Frage zentral: Was, wenn Kinder mit Sprachdefiziten den Test nicht bestehen? „Was bedeutet das rechtlich? Wie gehen die Kitas damit um, wenn es da auch kein professionelles Personal gibt? Wollen wir die Kinder dann verpflichtend in irgendwelche Kurse packen?“ Fragen, die vor allem mit Menschenrechten zu tun hätten – denn es geht um den Umgang mit kleinen Kindern, so Fleischmann in einem Gespräch mit dem BR. „Diese Kinder sind fünf, sechs Jahre alt.“

Mit Blick auf den Lehrermangel stehen private Grundschulen unter dem gleichen Druck wie die staatlichen Institute. Für das kommende Schuljahr aber können zumindest alle befragten Schulen auf ausreichend Grundschullehrer*innen zurückgreifen. 

Insgesamt erhalten laut bayerischem Kultusministerium im kommenden Schuljahr 1450 Lehrkräfte inklusive der freien Bewerber*innen die Gelegenheit, an einer Grundschule zu unterrichten. Etwa 1089 Lehr- und Fachlehrkräfte an den Grundschulen sind im Schuljahr 2023/24 in den Ruhestand gegangen.

Wie an allen anderen Schulen, setzt auch Rektorin Brigitte Hauck an der Grundschule Miltenberg auf Flexibilität, um die verordneten Zusatzstunden in Deutsch und Mathe möglich zu machen. „Wir haben lange diskutiert, mit Lehrkräften und Elternbeiräten, wie wir den schulischen Spielraum nutzen“, erzählt Hauck. Sie setzt auf bewährte Förderprogramme wie Filby (Leseförderung) oder Fisby (Schreibförderung). „Wenn ich das Leseprogramm machen möchte, brauche ich die zusätzliche Deutschstunde auch.“

Die Ursachen für die zunehmenden schulischen Defizite der Kinder auch bei den sozial-emotionalen Kompetenzen macht sie nicht nur in der zunehmenden Migration aus. „Das ist auch eine Frage der generellen Leistungsmotivation und Erziehung“, erklärt Hauck. „Ein Stück weit ist es auch ein Lebensstil. Freizeit ist den Eltern wichtig.“

Die Einstellung zu Schule und Leistung spielt auch in Hof an der Eichendorff-Grundschule eine Rolle. Die Gründe für mangelnde schulische Kompetenzen liegen hier aber oft im sozialen Umfeld, das stark durch Migration und Armut geprägt ist. Rektorin Ulrike von Rücker greift wie ihre Kolleg*innen auf erprobte Förderprogramme zurück. Ihre Lehrkräfte mussten sich entscheiden, ob sie Deutsch fördern oder Mathematik. Das Kultusministerium bietet dazu Fortbildungen in den Filby-Programmen für Sprache oder QuaMath (Qualität Mathematik) für Mathe an.

„Das ist auch eine Frage der Erziehung“

Von Rücker hat sich für QuaMath entschieden, weil es den Kindern nicht einfach nur stur das Rechnen beibringt, sondern das Lernen und Denken grundsätzlich fördere und zu einem langfristigen Vernetzenlernen führe. Die Sprachtests werden in Hof von den Kitas übernommen. „Die Schule ist aber durch eine Förderlehrerin involviert“, sagt von Rücker.

An der Schule unterstützen eine Jugendsozialarbeiterin und eine weitere Kraft für die Sprachförderung die Kinder tatkräftig. Lediglich beim Schwimmen nimmt von Rücker, anders als alle anderen befragten Schulen, die Eltern mehr in die Pflicht. In Hof stehen allen Schulen gemeinsam drei Bäder zur Verfügung, darunter ein Freibad.

Allen Schulen ist gemein, dass sie die zusätzliche Deutsch- und Mathematikstunde an anderer Stelle streichen mussten. Mit mehr Lehrpersonal wäre das vielleicht nicht nötig gewesen. (Flora Jädicke)
 

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