Leben in Bayern

Das Fischerdorf Natternberg: Dieter Stuka hat das Bild bei seinen Hilfseinsätzen in den Tagen nach der Katastrophe gemacht. (Foto: Dieter Stuka)

01.09.2017

"Mein Leben ist abgesoffen"

Vor mehr als vier Jahren erschütterte die Jahrhundertflut den Landkreis Deggendorf – viele Betroffene leiden bis heute unter den Folgen

Als die Donau im Sommer 2013 in Ostbayern über die Ufer trat, sprachen viele von einem Jahrhunderthochwasser. Hunderte verloren alleine im Landkreis Deggendorf ihr Zuhause. Politiker versprachen Hilfe und hielten Wort. Dennoch sind die Folgen mancherorts noch allgegenwärtig. Schlimmer als die Schulden sind oft psychische Probleme. Ein Besuch in der Region. Vor Kurzem war es wieder so weit. Tagelang hatte es geregnet. Schweißgebadet war Dieter Stuka in der Nacht aufgewacht. Es schüttete aus Kübeln, die Regentropfen klopften ans Fenster. Dann fuhr der 65-Jährige wieder raus, um mit seinem alten Mercedes nach dem Rechten zu schauen – erst zum Damm, dann zur Brücke und ans Flussufer. „Ich musste mit eigenen Augen sehen, dass das Wasser nicht wieder so steigt wie damals.“

Damals, Anfang Juni 2013, war alles ganz schnell gegangen. Nach starkem tagelangem Regen stiegen Donau und Isar in Teilen Ostbayerns auf Rekordpegelstände. Dämme brachen, die darauf folgende Jahrhundertflut verursachte alleine im am stärksten betroffenen Landkreis Deggendorf einen Schaden von einer halben Milliarde Euro.

Seelische Wunden : „Die Flut lässt mich nicht mehr los“

Auch Stukas Heimatort Niederalteich wurde überschwemmt. „Meine Frau wollte es nicht glauben“, erinnert sich der Rentner. Seine Familie hatte eine halbe Stunde, um das Allernötigste zusammenzupacken. Doch was nimmt man in einer solchen Situation mit? Die Stukas entschieden sich für ihre Wertsachen wie Schmuck, die Computer, einen Teil der Fotoalben. „Ein paar intime Erinnerungen wie Kassetten mit Tonaufnahmen der Kleinsten und natürlich noch die Schulsachen der Pflegekinder.“ Neben erwachsenen eigenen Kindern wohnten zu jener Zeit auch drei von den Stukas im Auftrag des Jugendamts betreute Kinder und die pflegebedürftige Tante in den beiden Häusern.

„Priorität hatte die Sicherheit aller“, erinnert sich Stuka, der vor seinem Ruhestand fast drei Jahrzehnte als Betriebsseelsorger gearbeitet hat. Er kennt das Leiden anderer. Doch in jenen Tagen fürchtete er selbst, dass alles zerstört werden könnte, was er in seinem Leben aufgebaut hatte. Kleidung, viele persönliche Erinnerungen wie alte Fotos oder Urkunden versanken. Sein halbes Leben sei „abgesoffen“, erinnert er sich. In den Tagen nach der Flut half der Reservist als Kommandeur der Bundeswehr bei den Fluteinsätzen. Nach einer Woche sah er dann erstmals die Familienhäuser. Beide waren vollgelaufen. „Klar war, dass es uns schlimm getroffen hatte. Aber wie schlimm?“

Es begann das Bangen. Einige Zeit später wurde klar: Ein Haus kann saniert werden, das andere musste neu gebaut werden. Schadensumme: 700 000 Euro. „Zunächst wussten wir nicht, wie es weitergehen soll.“ Mehr als vier Jahre ist die Katastrophe jetzt her – „doch die Flut lässt mich nicht los“, sagt Stuka, während er über eine Brücke fährt. Er blickt in Richtung des Flusses, der sich an diesem Sommertag friedlich durch die Landschaft schlängelt. Stuka lenkt seinen Wagen an der Donau entlang. Er fährt durch Fischerdorf, einem eher dörflichen Stadtteil von Deggendorf – dort haben die Wassermassen besonders schrecklich gewütet. Jedes Mal, wenn er an einem Gebäude vorbeifährt, das in weiten Teilen überflutet wurde, reckt er den Finger in die Richtung. Er deutet auf eine Betriebshalle. „Der Chef konnte nichts retten.“ Beim örtlichen Wertstoffhof seien später sogar die Schrott-Container in der Flut mitgeschwommen – so stark waren die Wassermassen.

Auch in Niederalteich zuckt sein Finger oft. Privathäuser, die Bank, der Kindergarten, die Schule –  vieles habe saniert oder neugebaut werden müssen. Das Auto hält. Er zeigt anhand einer Hecke, wie hoch das Wasser an seinem Haus stand. „Überall schwamm Öl. Die Heizölkessel waren ausgelaufen.“ Am Ende ging es finanziell relativ glimpflich aus. Für den Neubau und die Sanierung bekamen die Stukas 540 000 Euro an staatlichen Hilfsgeldern, 160 000 Euro Schulden hat der Rentner seither. Doch weit schlimmer sei die „posttraumatische Belastungs-störung, die noch immer anhält“. Manchmal, wenn er an das Erlebte denkt, kommt der Öl- oder Modergeruch zurück. Lange konnte er an der Tankstelle keinen Diesel mehr abfüllen. „Das hat sich eingebrannt.“

Er fährt den Laptop hoch, sieht sich Fotos der Katastrophe an. Stuka bekommt eine Gänsehaut. Auf einem der Bilder ragen nur mehr die Dächer aus dem Wasser heraus. Stuka wird still. Dann sucht er noch ein Video. „Warten Sie.“ Schlammlawinen, ein weggespültes Ortsschild und andere Horrorbilder sind zu sehen.

Die beiden Familien-Katzen hatten im Juni 2013 tagelang im Bad im ersten Stock ausgeharrt. Die Söhne haben sie dann nach ein paar Tagen mit dem Schlauchboot geholt. Auch seine Frau sagt, dass sie damals Angst hatte. Ein großes Kreuz hängt in der Küche, Stuka ist ein gläubiger Mensch. „Du merkst in einer solchen Situation, wie stark die Naturgewalten sind, und, dass du als Mensch nie wirklich Sicherheit hast.“ Wenn so etwas komme, dann sei man „ausgeliefert“, sagt er.

Manche sind weggezogen. Die Stukas blieben – und auch die Angst. Irgendwann holte sich Seelsorger Dieter Stuka selbst Hilfe. Reiner Fleischmann, Notfallseelsorger der Malteser, besucht ihn und manche anderen Opfer mittlerweile seit vier Jahren. Finanziell habe der Staat getan, „was getan werden konnte“, sagt der Diakon und fügt hinzu: „Doch die seelischen Wunden sind bei vielen Opfern bis heute nicht geheilt.“ Manche Betroffene bekämen auch noch Jahre später bei Unwetter oder Dauerregen Angstzustände. „Die Bilder, die Jahre zurückliegen, sind weiter in ihnen“, weiß Fleischmann.
Nach der Flut hätten viele Opfer über Monate hinweg in Ungewissheit gelebt. Eine Familie habe zweimal saniert, zuletzt sagte dann ein Gutachter, sie müssten neu bauen. Monatelang fragten sich viele, ob ihnen ihre Versicherung oder der Staat am Ende tatsächlich die Schäden ersetzten.

Gestandene Männer, die noch Monate später weinen

Als Betroffene dann nach ein, zwei Wochen ihre Häuser erstmals besuchten, hätten sich teilweise schreckliche Szenen ereignet. „Sie öffneten die Tür und in der entgegenkommenden Wassermasse wurde ihnen ihr totes Haustier entgegengespült.“ Noch nach Monaten hätten auch gestandene Männer geweint, wenn sie ihm das Erlebte schilderten.

Fleischmann hat sich in seinen rund zwei Jahrzehnten als Seelsorger unter anderem um Hinterbliebene nach dem Amoklauf in Erfurt 2002 und der Loveparade in Duisburg 2010 gekümmert. Doch ein besonderes Problem für durch Hochwasser Traumatisierte sei, dass diese den Orten des Schreckens nicht ausweichen könnten.

Münchner Forscher fragten 2014 die seelischen Folgeschäden der Flut bei Betroffenen ab – diese waren im Vergleich zu anderen Katastrophen besonders hoch. Ein Jahr nach der Jahrhundertflut hatte der Deggendorfer Landrat mitgeteilt, dass die Einnahme von Psychopharmaka im Landkreis deutlich angestiegen sei. Eigentlich ist die Malteser-Hilfe ausgelaufen. „Doch noch immer haben nicht alle Traumatisierten die psychologische Regel-Versorgung, die sie eigentlich bräuchten“, sagt Fleischmann. Das Problem: In Ostbayern könne es Jahre dauern, bis man einen Platz bei einem Therapeuten bekomme.

Viele Politiker ließen es sich nach der Flut nicht nehmen, sich in Gummistiefeln mit den Fluthelfern ablichten zu lassen und umfassende Hilfe zu versprechen. Zumindest diesmal hielten sie Wort. Geschädigte, die keine Versicherung hatten, bekamen 80 Prozent ihres Schadens vom Staat ersetzt. „Wer nachweislich nicht in der Lage war, einen Eigenanteil zu tragen, wie Menschen mit sehr geringer Rente etwa, dem wurden bis zu 100 Prozent Aufbauhilfe gewährt“, sagt Oliver Menacher, Sprecher des Landratsamts Deggendorf, der Staatszeitung.

227 Wohnhäuser mussten im Landkreis wegen des Hochwassers abgerissen werden, fast 670 Anträge auf Sanierung gingen bei der Behörde ein. Auch manchen, die eine Versicherung hatten, musste der Staat helfen. Assekuranzen zogen alle Register, erkannten beträchtliche Flutschäden nicht an. „Wer versichert war, hat oft am Ende sogar mehr Probleme gehabt als ohne Versicherung“, erinnert sich Dieter Treske, Feuerwehr-Kommandant von Fischerdorf. Ein Problem: Viele Handwerksbetriebe hätten die Preise nach der Flut massiv erhöht. „Ein Teil der Firmen verdoppelte sie sogar.“ Angebot regelt die Nachfrage – nach Naturkatastrophen eine zynische Logik.

Alles in allem hat das Landratsamt bis Mitte Juli dieses Jahres rund 277 Millionen Euro an Hilfen bewilligt, ein großer Teil stammt vom Freistaat. Zudem wurde viel Geld in den Hochwasserschutz gesteckt. Das war auch bitter nötig. Künftig können Flutopfer nicht mehr so umfassend wie in der Vergangenheit auf Hilfe aus München hoffen. Von Mitte 2019 an will Bayern Hochwasseropfern keine Soforthilfe mehr zahlen, falls die Schäden versicherbar gewesen wären.

Trotz der Hilfe vom Staat: Viele haben nun Schulden

In Fischerdorf fühlen sich die meisten Menschen nun jedoch relativ sicher. Treske denkt noch immer oft an jene Zeit zurück. „Sämtliche Häuser standen hier bei uns unter Wasser“, sagt er. Alle Bewohner seien evakuiert worden. Er zeigt auf ein Luftbild der der Ortschaft: „Das Dorf ist nicht mehr dasselbe wie frühere.“

Der Familienvater steht in einem Besprechungsraum der Feuerwache. Dort stand das Wasser damals schulterhoch. Später zeigt er Fotos der Katastrophe, die in einem der Zimmer wie Devotionalien an einer Schauwand hängen. Ein überflutetes Autohaus, Tierkadaver oder ein vom Horror gezeichneter Retter sind auf den Aufnahmen zu sehen. „Das Erlebte hat auch gestandene Feuerwehrleute geschockt.“

Treske schichtete in der ersten Nacht Sandsäcke auf, als viele noch hofften, dass der Damm halten könne. Später half er bei der Evakuierung, fuhr mit Booten zu denen, die ihr Hab und Gut aus Angst vor Plünderern nicht zurücklassen wollten. „Vor allem unter den Alten wollten viele nicht gehen.“ Manche habe die Polizei unter Zwang abholen müssen.

Drei Meter stand damals das Wasser auch bei Treske im Haus. Das ganze Gebäude musste abgerissen werden. Der Neubau kostete 780 000 Euro. „Das Haus ist ja schön, aber das alte war es auch“, sagt er in Richtung der Neider, die es selbst in Fischerdorf gibt. Jetzt hat der 56-jährige Gastwirt kurz vor dem Ruhestand 150 000 Euro Schulden.

Treske und seine Feuerwehr-Kameraden seien „Helden gewesen, die für andere die Ärmel hochkrempelten, obwohl sie selber vor dem Nichts standen“, schrieb die Lokalzeitung Jahre später. Er nimmt einen Schluck aus dem Weißbierglas, blickt auf eine Ortskarte – und versucht dem Geschehenen auch etwas Gutes abzugewinnen: „Die Gegend wurde aufgewertet.“ So gebe es jetzt in dem 1200 Einwohner zählenden Örtchen viele sanierte Straßen.

Eine führt zu Jakob Kunz, der in Natternberg wohnt. Im blühenden Vorgarten summen die Bienen und Hummeln. Er deutet auf eine Markierung an der Hauswand in gut zwei Metern Höhe. Kunz streckt sich: „So hoch stand damals das Wasser.“ Im Wald hinter seinem Haus habe es sogar gut vier Meter Höhe erreicht. Es sei eine „schreckliche Zeit“ gewesen. „Das wünscht man seinem ärgsten Feind nicht.“ 100 000 Euro kostete die Sanierung, die drei Jahre dauerte. Kunz lebte lange in einer Dauerbaustelle. Als der 58-jährige Industriearbeiter die Haustür nach der Flut erstmals öffnete, sah er seine Couch und die Weingläser im Dreckwasser schwimmen.

Er holt ein Bild von der Zimmerwand. Es zeigt junge Menschen in Gummistiefeln. „So viele Freiwillige haben uns damals beim Ausräumen des Hauses geholfen“, erinnert sich Kunz. Die Hilfsbereitschaft sei überwältigend gewesen. Er bekam sogar einen Urlaub und eine neue Heizung geschenkt. Kunz sagt: „Rückblickend hat die Flut auch Positives gebracht: neue Wasserleitungen etwa.“ Zudem kümmerten sich „die Menschen im Viertel jetzt besser umeinander“. Die damalige Hilfsbereitschaft seiner Mitmenschen bewegt ihn bis heute: „In solchen Situationen zeigt sich, dass wir Menschen sind.“
(Tobias Lill) Fotos (Tobias Lill):
Dieter Stuka und seine Frau: „Die Bilder haben sich eingebrannt.“
Jakob Kunz: Die Markierung zeigt, wie hoch das Wasser in seinem Haus stand.

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