Der Marsch der Blaskapelle ist kilometerweit zu hören. Roter Steppensand wirbelt auf, wenn die Musiktruppe durch die Dörfer zieht. Aus einfachen Lehmhütten mit Dächern aus Stroh drängen immer mehr Menschen hinaus in die sengende Hitze, vor allem Kinder und Jugendliche. Sie folgen dem scheppernden Klang aus Blech und Trommeln. Bald sind es so viele, dass die Kapelle kaum noch zu erkennen ist. Aus einer Hütte tritt eine Frau heraus, mit einem Baby auf dem Rücken. „Das ist wie Wasser in der Wüste“, sagt sie und zeigt auf einen großen Lastwagen.
Zu diesem Truck marschiert der Umzug, umrundet ihn und bleibt schließlich vor ihm stehen. In der endlosen Weite der Provinz Yumbe im Nordwesten Ugandas, mitten im Nirgendwo, wirkt dieser moderne Lkw fast schon surreal, aber er ist Wirklichkeit. Seit Herbst 2021 kurvt er durch Bidi Bidi, die zweitgrößte Flüchtlingssiedlung der Welt.
Ein alter Lastwagen aus Bayern als Symbol
Der Lastwagen repräsentiert ein gewaltiges Projekt: Lab Uganda. Lab steht für Labor. Dahinter steckt eine Idee, die in Bayern geboren wurde, vom 2018 gegründeten Verein Music Connects in München. Zum Team gehören auch zwei Musiker*innen, die eng mit der Bayerischen Staatsoper verbunden sind: die Violinistin Verena-Maria Fitz aus Augsburg und Geiger Geoffroy Schied. Als eines der größten Kulturzentren Europas mischt zudem der Münchner Gasteig mit.
Bei der Umrüstung des Lastwagens zur mobilen Bühne mit Tonstudio, Kino, Internet, Lerncomputern und elektrischen Musikinstrumenten hat der Gasteig mit Rat und Tat geholfen. Der zu einem Music Lab – auf Deutsch Musiklabor – umgewandelte Lastwagen gehörte einst dem Bayerischen Rundfunk und wurde mithilfe des Logistikpartners DHL nach Ostafrika transportiert. Von München ging es nach Bremerhaven, von dort mit dem Schiff nach Mombasa in Kenia und weiter nach Bidi Bidi. Rund 200 000 Menschen leben aktuell hier, vornehmlich Flüchtlinge aus dem Südsudan, wo seit 2016 ein Bürgerkrieg tobt.
Im Westen weiß allgemein kaum jemand von Bidi Bidi. Niemand spricht über die Menschen hier. Der große Lastwagen aus Bayern gibt ihnen nicht nur eine Plattform, sondern verleiht ihnen buchstäblich eine Stimme. Es sind nicht zuletzt Volksmusikgruppen der Vertriebenen, die das Tonstudio nutzen, um die Melodien und Lieder aus ihrer Heimat zu dokumentieren und vor dem Vergessen zu bewahren. Mit der „Alpha Band“ hat sich zudem eine Flüchtlingskapelle etabliert, die inzwischen sogar eigenes Geld verdient.
Für die Realisierung der Projekte vor Ort kooperiert Music Connects mit Brass for Africa in Uganda. Diese 2010 gegründete, nichtstaatliche Organisation stemmt überdies den Musikunterricht in Bidi Bidi, und das alles mit größtem Erfolg.
Die Zahlen sprechen für sich. Seit dem Startschuss von Lab Uganda im Herbst 2021 wurden bereits über 63 000 Menschen erreicht, mehr als doppelt so viele wie erwartet. Statt den geplanten 255 Projekten werden überdies jährlich inzwischen 495 Projekte realisiert. Mit drei Schulen in und um Bidi Bidi wollte man regelmäßig interagieren. Es sind bereits 18 Schulen, und den Musikunterricht nehmen über 800 Flüchtlinge wahr. Bis jetzt wurden 27 Menschen mit der Studiotechnik im Lastwagen vertraut gemacht: auch Frauen.
Denn Gleichberechtigung wird bei Lab Uganda großgeschrieben, auch im pädagogischen Team und in der Administration. Muslimische Frauen, die Kopftücher tragen und Blechblasinstrumente spielen? In Bidi Bidi ist sogar das Normalität, ganz im Gegensatz zur Orchesterszene in Deutschland. Bei Lab Uganda bedeutet gleichzeitig Musikunterricht nicht einfach das Erlernen eines Instruments, sondern die Vermittlung von sozialen Lebenskompetenzen. Es geht um Selbstbewusstsein und Teamwork, gezielte Problemlösung statt Selbstaufgabe oder das Schüren von Konflikten.
Die Lehrer*innen von Brass for Africa wissen genau, wovon sie reden. Sie sind selber in schwierigsten Verhältnissen aufgewachsen: größtenteils in den Slums von Kampala, der Hauptstadt Ugandas. Das alles rettet buchstäblich Leben, wie Orkhan Nasibov betont. „Seit dem Start von Lab Uganda hat sich die Selbstmordrate in Bidi Bidi signifikant reduziert“, weiß der Leiter des UNHCR-Büros in Yumbe zu berichten. Dasselbe gilt für Gewaltverbrechen, Vergewaltigungen, Alkoholismus oder psychischen Erkrankungen.
Die Musik als Ausweg aus Verlust und Traurigkeit
Hinter diesen Erfolgen stehen Einzelschicksale. Da ist Scovie Tabu Peace: Die 18-Jährige stammt aus dem Südsudan und spielt Baritonhorn. Ihre Eltern hat sie im Bürgerkrieg verloren. „Ich habe nicht geglaubt, dass ich es aus meinem dunklen Loch in mir schaffen könnte, dass es Hoffnung gibt für mich. Die Musik hat mich gerettet.“ Was sie einmal werden möchte, wovon sie träumt? „Ich möchte Musiklehrerin werden, das ist mein größter Traum.“ Warum? „Weil ich der Gemeinschaft hier zurückgeben möchte, was mir gegeben wurde – ein Sinn, ein Ziel, eine eigene Stimme.“ Das alles erzählt sie nüchtern, ganz ohne Larmoyanz.
Umso wichtiger ist es, dass Lab Uganda konsequent weiterentwickelt wird – auch in Form von Austauschprojekten. Im Herbst 2022 konnte Lab-Haupttechniker Alex Ninsima mit einem Praktikum in München beim Gasteig-Team sein Wissen in Ton- und Mischtechnik vertiefen. Zuvor hatten im Sommer 2022 Blechbläser*innen des Bayerischen Staatsorchesters mit einer Blechtruppe von Brass for Africa vor dem Münchner Nationaltheater ein gemeinsames Stufenkonzert gegeben.
Solche Austauschkonzepte wären auch künftig eine große Bereicherung. Allerdings stellt sich die Frage, wie es mit der Finanzierung von Lab Uganda weitergeht. Im September 2024 läuft die gegenwärtige Förderung durch das Auswärtige Amt aus. Die Suche nach neuen Fördermitteln hat bereits begonnen.
Mit Lab Uganda hätte der Freistaat die Chance, ein aus Bayern stammendes Projekt zu fördern, wie es sich nachhaltiger und innovativer nicht denken lässt: kulturell, gesellschaftlich und bildungspolitisch. „Wasser in der Wüste“ eben, wie es die Frau mit dem Baby auf dem Rücken in Bidi Bidi formuliert. Wer die Arbeit von Lab Uganda vor Ort erlebt, mit den Menschen spricht und die Eindrücke wirken lässt, kehrt als neuer, anderer Mensch zurück. (Marco Frei)
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