Durch die Lockdowns, die pandemiebedingte Verbannung an den Bildschirm und die stark reduzierten Möglichkeiten, sich zu bewegen, sind viele Kinder 2020 und 2021 buchstäblich in Teufels Küche gekommen. Noch häufiger als sonst tigerten sie zum Kühlschrank. Manche griffen dauernd in die Süßigkeitenkiste. Aus Langeweile. Oder Frust. Einige Kinder nahmen extrem stark zu. „Und zwar um bis zu 30 Kilo innerhalb von 20 Monaten“, sagt Katja Knab, Kinderärztin am Klinikum in Nürnberg.
Es gab Kinder, die während der Corona-Episode Nacht für Nacht vor dem Computer saßen, Spiele spielten, chatteten – und schnabulierten. Dies bestätigt Katja Knabs Kollege Gabriel Torbahn. Der Ernährungswissenschaftler ist zusammen mit der Kinderärztin in der 2021 gegründeten Adipositas-Beratungsstelle für Kinder des Nürnberger Klinikums tätig. Über diese Einrichtung lernten die beiden Peter (Namen aller Kinder von der Redaktion geändert) kennen.
„Der Junge hatte außer seiner alleinerziehenden Mutter keine realen Kontakte mehr“, sagt Gabriel Torbahn. Seine Mahlzeiten nahm er im Zimmer ein: „Um 14 Uhr frühstückte er, um 20 Uhr gab es Abendessen, dazwischen war Dauersnacking angesagt.“ Während er zockte, stopfte Peter eine Rippe Schokolade nach der anderen in sich hinein. Oder er fasste, ohne nachzudenken, ständig in die Chipstüte, die neben der Spielkonsole lag. Durch seine Heißhungerattacken nahm der Junge Monat für Monat ein bis eineinhalb Kilo zu.
Wartelisten von mehr als einem Jahr
Peter ist keine Ausnahme. Sehr viele Kinder im Freistaat müssten dringend abspecken. Wiegen sie doch zum Teil mehr als ihre eigenen Eltern. Wie gravierend die Problematik ist, zeigt sich an der Warteliste der Nürnberger Adipositas-Beratungsstelle. An zwei Nachmittagen in der Woche können bis zu acht Familien mit sehr dicken Kindern beraten werden – etwa dazu, wie man seinen Lebensstil umstellen kann, um dünner zu werden. Die vorhandenen Kapazitäten reichen allerdings in keiner Weise aus.
„Wir haben inzwischen eine Warteliste von fast einem Jahr“, berichtet Katja Knab. Die Ärztin engagiert sich nicht nur in der Beratungsstelle: Seit 2002 bietet sie außerdem Adipositas-Schulungen an. Auch daran steigt das Interesse. Die Schulung selbst zieht sich über ein volles Jahr hin. Die teilnehmenden Familien brauchen also viel Durchhaltevermögen.
Die Erfahrung zeigt laut der Kinderärztin, dass dies die Teilnahme von Familien aus bildungsfernen Schichten erschwert. Dabei sind diese oft besonders stark von der Problematik betroffen.
Die Verfassung garantiert Eltern im Freistaat, dass sie das oberste Recht haben, ihre Kinder zu erziehen. Das ist auch gut und richtig so, findet Katja Knab. Allerdings wird dies manchmal problematisch. Und zwar dann, wenn Eltern ganz offensichtlich nicht imstande sind, die aus diesem Rechtsanspruch erwachsenen Pflichten zu erfüllen. So kann es im Zusammenhang mit Fettleibigkeit laut der Kinderärztin in ganz gravierenden Fällen zu einer Kindeswohlgefährdung kommen.
„Und doch wäre es absolut zu kurz gegriffen, den Eltern die alleinige Schuld zu geben“, sagt Knab. Denn Adipositas ist eine chronische Erkrankung. Als solche wurde sie von der Weltgesundheitsorganisation WHO heuer vor genau 75 Jahren anerkannt.
Wie ausgeprägt die Problematik aktuell im Freistaat ist, kann nur abgeschätzt werden. Denn die Statistik hinkt hinterher. „Die letzten Daten liegen uns aus dem Vor-Corona-Schuljahr 2019/20 vor“, sagt Aleksander Szumilas, Pressesprecher des Landesamts für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL). Vor drei Jahren waren 5,1 Prozent von 113 000 zum Schuleingang untersuchten Kindern übergewichtig: „Der Anteil der adipösen Kinder lag bei 3,4 Prozent.“ Demnach litten rund 3700 Jungen und Mädchen der Schuleingangsuntersuchung zufolge an Adipositas.
Interessant: Mit 9,1 Prozent gab es im Schuljahr 2019/20 etwas mehr unter- als übergewichtige beziehungsweise adipöse Kinder (8,5 Prozent). Im Zehnjahresvergleich haben sich die Zahlen kaum verändert. Bei der Schuleingangsuntersuchung im Schuljahr 2009/10 stellte sich heraus, dass 8,4 Prozent der Kinder übergewichtig sind. Der Anteil adipöser Kinder lag da bei 3,2 Prozent.
Die Armut ist klar auch ein Faktor
Auffällig ist seit vielen Jahren ein Nord-Süd-Gefälle: In Oberbayern gibt es deutlich weniger adipöse Kinder als in Niederbayern, der Oberpfalz und in Mittelfranken. Noch extremer waren die Unterschiede in den vergangenen Jahren in Bezug auf die Landkreise. Während es im Landkreis Starnberg nur vergleichsweise wenige adipöse Kinder gibt, lag ihr Anteil zum Beispiel im Landkreis Schwandorf bisher deutlich über dem Durchschnitt.
Analysen, zum Beispiel von Daten der Krankenkassen oder von Schuleingangsuntersuchungen aus Niedersachsen, zeigen laut Aleksander Szumilas einen Anstieg von Adipositas bei Kindern während der Corona-Zeit. Der Pressesprecher bestätigt im Übrigen, dass es innerhalb Bayerns deutliche regionale Unterschiede gibt. Diese hingen vor allem auch mit sozioökonomischen Faktoren zusammen. Damit bestätigt das LGL die Beobachtungen der Nürnberger Kinderärztin Katja Knab. Nach deren Aussagen kommen nicht selten Familien in Begleitung einer sozialpädagogischen Familienhilfe in die Nürnberger Beratungsstelle.
Die AOK Bayern verzeichnet zwischen 2018 und 2021 einen deutlichen Anstieg des behandlungsbedürftigen Übergewichts. Bei allen bei der AOK versicherten Kindern und Jugendlichen betrug der Anstieg laut Alexander Pröbstle, Direktor der AOK in Würzburg, 13,5 Prozent. Insgesamt waren im vorletzten Jahr 4,8 Prozent aller Versicherten im Kindes- und Jugendalter stark übergewichtig gewesen. Ärzte aus der Stadt Würzburg stellten 2021 laut Pröbstle bei knapp 6 Prozent der bei der AOK versicherten Kinder und Jugendlichen die Diagnose „Adipositas“. Bayernweit betrage der Anstieg bei jungen Adipösen zwischen 2018 und 2021 deutlich mehr als 50 Prozent.
Manche Kinder sind so dick, dass sie überhaupt keine Kondition haben. Für Norbert aus Unterfranken sind schon 800 Meter ungeheuer anstrengend, berichtet Brigitte Müller vom Ambulanten Schulungszentrum in Würzburg. Norbert ist neun Jahre alt. Und bringt 107 Kilo auf die Waage. „Er ist unser größtes Sorgenkind“, sagt die Ernährungsexpertin, die seit Februar die 23. Adipositas-Schulung am Würzburger Zentrum hält. Zwölf Kinder zwischen 9 und 14 Jahren aus ganz Unterfranken nehmen teil. Sehr viele, so Brigitte Müller, haben einen stark übergewichtigen Vater oder eine adipöse Mutter.
Es mangelt häufig an Erziehungskompetenz
Das Team das Ambulanten Schulungszentrums ist davon überzeugt, dass Adipositas therapierbar ist. Allerdings müsse die ganze Familie mitziehen. Und hier beginnen die Probleme. „In der aktuellen Gruppe haben wir sehr viel mehr Schulungseinheiten für Eltern als früher, weil wir festgestellt haben, dass vielen Eltern heute Erziehungskompetenz oft komplett fehlt“, erklärt Brigitte Müller. Zum Beispiel seien viele Mütter und Väter nicht mehr imstande, ihrem Kind Grenzen zu setzen: „Oder sie setzen Grenzen nicht konsequent durch.“ Dass die meisten Kinder lieber Pommes als Brokkoli wollen, ist klar. Und sicher braucht es Nerven, um gesunde Kost durchzusetzen. In der Adipositas-Schulung lernen Eltern, nicht sofort nachzugeben, wenn ihr Kind zu nölen beginnt.
Ständiges Nachgeben wiederum ist ein Grund dafür, dass es während der einjährigen Schulung immer wieder zum Jo-Jo-Effekt kommt. Kathrin zum Beispiel, ein zwölfjähriges Mädchen, kam im Februar mit 81 Kilo in die Schulung. „Obwohl sie während der Schulung einen Zentimeter gewachsen war, gelang es ihr, auf 78 Kilo runterzugehen“, berichtet Brigitte Müller. Das hatte Kathrin wahnsinnig gefreut. Und auch die Adipositas-Trainerin war ganz glücklich.
Dann kamen die Pfingstferien: „Kathrin kehrte mit 81 Kilo zurück.“ So etwas frustriere, meint die Diätassistentin, die seit 2001 Adipositas-Kurse im Ambulanten Schulungszentrum Würzburg anbietet. Viele Kinder essen lieber ein Croissant als einen Apfel. Und sie lieben der Adipositas-Trainerin zufolge höchst energiedichte Speisen wie Pizza: „Von unseren zwölf Kindern geben acht an, dass Pizza ihr Lieblingsgericht ist.“ Ein Kind, das eine Pizza Salami verschlingt, verleibe sich dadurch auf einen Schlag 900 Kalorien ein: „Das deckt in der Regel ein Drittel des gesamten Tagesbedarfs ab.“
Wobei sich natürlich kaum ein Kind etwas Konkretes unter Kalorien vorstellen kann. Aktuell lernen die Kinder in der Würzburger Schulung, „trockene“ von „feuchten“ Lebensmitteln zu unterscheiden. Um ein Gespür dafür zu bekommen, was dick macht. (Pat Christ)
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