Sie hat bereits 4400 Kindern und Jugendlichen in Flüchtlingscamps im Nahen Osten einen Unterrichtsbesuch ermöglicht. In Schulen aus Zeltplanen, mit Tischen und Stühlen aus Holz vom Sperrmüll. Und mit Lehrern, die selbst Flüchtlinge sind. Die Münchnerin Jacqueline Flory hat ihren Verein im Krisensommer 2015 gegründet. Mittlerweile unterstützen ihn 40 bayerische Schulen.
Im Elternbeirat einer Grundschule wird so einiges besprochen. Das Mittagessen im Hort. Der Osterbasar. Wer steht am Kuchenstand beim Sommerfest? Manchmal geht es auch um mehr. Zum Beispiel: Kann die eigene Schule mithelfen, die Welt ein bisschen besser zu machen? Ideen tauchen auf und verschwinden. Auch Jacqueline Florys Idee hätte sich in Luft auflösen können. Dass es anders kam, ist der Zähigkeit der Münchnerin zu verdanken.
Es war 2015, jener krisenhafte Sommer, als die einen fanden, wir schaffen das, während sich andere von den fremden Flüchtlingen überrollt sahen. Elend, Krieg und Heimatverlust – schon Kindergartenkinder machten sich Gedanken über das, was am Münchner Hauptbahnhof geschah. Florys Sohn zum Beispiel, damals war er erst fünf. „Es ist wirklich schade“, sagte er zu seiner Mutter resigniert, „dass wir da nichts tun können.“ Flory allerdings pflichtete ihm nicht bei. Sie war alarmiert. Es brachte sie auf, dass bereits Kinder Ohnmacht empfanden.
Bayerische Kinder sammeln und basteln für die Schulen
So kam es, dass Flory eine Idee entwickelte. Von einer engagierten Freundin erfuhr sie, was sich in den Flüchtlingscamps im Libanon abspielte. Dass Erwachsene dort nicht arbeiten durften. Und darum die Kinder auf die Felder geschickt wurden. Tag für Tag, um Geld heranzuschaffen, von dem man leben konnte. Das sei für die Eltern das Schlimmste, erzählte die Freundin: dass ihre Kinder arbeiteten, statt zu lernen. Flory, verwitwet und alleinerziehend, reiste selbst in das Land und gründete die Initiative Zeltschule, die sich für die Bildung und den Unterricht syrischer Kinder in Flüchtlingslagern einsetzt. Mit Unterstützung des Elternbeirats der Schule ihres Sohnes.
13 Zeltschulen für syrische Flüchtlingskinder gibt es heute – zwölf in Camps im Libanon, eine in Syrien. Dank des Vereins der Eltern und Lehrer der Grundschule an der Münchner Tumblingerstraße, dessen Gründung Jacqueline Flory anschob. Mittlerweile wird er unterstützt von 40 bayerischen Schulen und hat bis heute 4400 Kindern und Jugendlichen in Flüchtlingscamps einen Schulbesuch ermöglicht. In Schulen aus Zeltplanen. Mit Tischen und Stühlen aus Holz vom Sperrmüll. Und mit Lehrern, die selbst Flüchtlinge sind.
Und nicht nur syrische Kinder lernen dadurch viel, auch die bayerischen Schüler profitieren. Sie sollen begreifen, dass Bildung – hierzulande vor allem verknüpft mit zu frühem Aufstehen, langweiligem Auswendiglernen und Notendruck – kein Fluch ist, sondern ein Privileg. Und auch, dass jeder Einzelne helfen kann. Die Kinder sammeln für Spendenläufe bei Verwandten, Freunden und Geschäftsleuten Geld ein. Für einen langen Lauf auf dem Sportplatz kann ein syrisches Kind im Camp eingeschult werden. Außerdem bemalen und packen die Schüler Ranzen, die in die Camps geschickt werden. Und spüren so die Bedeutung des eigenen Tuns. „Selbstwirksamkeit“ nennt das die Psychologie. Wer das Gefühl hat, gezielt Einfluss auf die Welt nehmen zu können, steht demnach erfolgreicher im Leben. Und ist weniger anfällig für Angststörungen und Depressionen.
Etwas anschieben, durchsetzen, tun: Das liegt Jacqueline Flory nicht nur, es gehört zu ihrem Wesen. „Ich habe schon immer viel geträumt, hatte aber auch diesen pragmatischen Ansatz“, erzählt sie. „Träume reichen mir nicht, ich möchte sie umsetzen.“ Als sie 19 war, ließ sie sich einen Spruch aufs Fußgelenk tätowieren. Auf Lateinisch. Übersetzt lautet er: „Entweder ich finde einen Weg, oder ich mache mir einen.“ Hannibal soll mit ihm seinen Zweiflern begegnet sein, als er Elefanten über die Alpen treiben wollte. Und auch Flory ließ sich von ihrem Vorhaben nicht abbringen: Sie gründete den Verein, baute eine Homepage und trat an zum Spendensammeln.
In fast allen bayerischen Schulferien macht sich Jacqueline Flory seither auf den Weg in den Libanon, ihre beiden Kinder im Schlepptau. Flory ist gelernte Dolmetscherin, auch für Arabisch, hatte ihre Kinder schon bei ihrer ersten Reise dabei. Ein „Eisbrecher“ sei das gewesen, sagt sie heute. „Wer mit Kindern kommt, meint es ernst.“ Trotzdem seien immer wieder Tränen geflossen, wenn sie nach langen Gesprächen abreisten. Wie darauf vertrauen, dass diese Frau zurückkommen würde?
Hauptärgernis für Flory: die nervtötende Bürokratie
Aber sie kam und kommt zurück, wieder und wieder. Mietet einen Laster, lädt 600 Kilogramm Bananen auf und verteilt sie im Camp. Unterhält sich mit allen, prüft, wie viele schulpflichtige Kinder es gibt, entscheidet, wo ein Zelt aufgebaut werden soll. Sie bringt die Spenden in die Camps und kauft vor Ort, was gebraucht wird. „Die Zeltschule war das erste gemeinsame Projekt ohne Papa“, sagt sie. Ihr Mann war kurz zuvor plötzlich verstorben. Den Kindern hat das gut getan. „In den Camps trauert jede Familie um irgendwen.“ Darum fühlten sich auch die beiden deutschen Kinder, die ihren Vater verloren hatten, dort nicht so allein.
Fragt man Flory, woher sie ihre Kraft nimmt, sagt sie: aus den Freundschaften in den Camps. Auch Verantwortung treibe sie an. Und das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Ihre Arbeit ist allerdings auch von Wut begleitet. „Ich bin noch nie gut darin gewesen, Dinge einfach hinzunehmen“, sagt sie. Zermürbend findet sie etwa die Bürokratie in Deutschland. Ein halbes Jahr Arbeit habe es zum Beispiel gekostet, eine Satzungsänderung durchzubringen, die es dem Verein erlaubt, nicht nur Kinder, sondern auch Frauen zu unterstützen. Und manche Stiftungen, die der Verein anschreibt, verlangen ein Gutachten über den Baugrund, auf dem die Schule entstehen soll. „Aber das ist Ackerland, da gibt es keine Baugrundgutachten. Ich stelle doch nur ein Zelt hin!“
In solchen Momenten, erzählt Flory, komme sie an die Grenzen ihrer Kraft. Zu viel Bürokratie hier, eine korrupte Regierung dort. Dazu das Chaos, das schon vor der libanesischen Revolution groß war. Und doch bleibt die Münchnerin dran an ihrem Projekt. Und hofft, dass sich irgendwann noch mehr Stiftungen und Sponsoren aus der Wirtschaft finden, die bereit sind, die laufenden Kosten für Lebensmittel und Schulmaterialien zu übernehmen. Ein Ende ihres Engagements ist nicht abzusehen. Sollten die Flüchtlinge nach Syrien zurückkehren, meint Flory, wäre auch dort noch eine ganze Weile Unterstützungsbedarf.
Hat sie selbst sich verändert in den vergangenen Jahren? Haben die Begegnungen im Camp Spuren hinterlassen? Dankbarer sei sie geworden, sagt Jacqueline Flory. Achtsamer. Optimistischer. „Ich halte noch sehr viel mehr für möglich als früher.“ Aber das hat seine Kehrseite. „Die Arbeit hat mich ungeduldiger gemacht. Intoleranter gegenüber unseren Erste-Welt-Problemen.“ Die ganze vernörgelte Unzufriedenheit regt sie auf. Oft frage sie dann: „Wisst ihr eigentlich, wie andere Leute leben?“
(Monika Goetsch)
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