Über dem Inkubator prangt ein kleines Schild: „Unser Wunder“ steht darauf geschrieben. Das Wunder, ein Bub namens Anton und gerade einmal 700 Gramm schwer, schläft gerade, überwacht von der Hochleistungsmedizin einer Frühgeborenen-Intensivstation, die sicherstellt, dass es diesem winzigen Jungen an nichts fehlt – nicht an Wärme, nicht an Sauerstoff und auch nicht an Muttermilch. Anton, der vor drei Tagen auf die Welt gekommen ist, wird über eine Magensonde ernährt. Circa alle zwei Stunden erhält er einen Milliliter Milch, die, und das ist das Besondere in der München Klinik Harlaching, aus der hauseigenen Frauenmilchbank stammt.
Die Mutter selbst hat noch nicht genügend Milch, um ihr Kind versorgen zu können. Deshalb bekommt ihr Sohn jetzt Frauenmilch, also Muttermilch einer anderen Frau, die diese vor einigen Wochen und während ihrer Zeit auf der Station gespendet hat. Im Februar 2024, also vor fast genau einem Jahr, ging die Frauenmilchbank in Harlaching in Betrieb. Es ist neben dem Klinikum Großhadern die zweite in München und die fünfte in Bayern. Insgesamt gibt es in Deutschland rund 50 Frauenmilchbanken. Viele dieser Spenderbanken haben erst in den vergangenen Jahren eröffnet – deutschlandweit erlebt das alte Konzept der Milchsammelstelle eine Renaissance.
In der DDR gefördert, im Westen eingestellt
1959 gab es in Deutschland 86 Frauenmilchbanken, davon 62 in der DDR. Dort wurden die Einrichtungen staatlich gefördert. In der Bundesrepublik der Nachkriegszeit trat dagegen die künstliche Säuglingsnahrung ihren Siegeszug an. Flaschenmilch galt als sicher und praktisch, während das Stillen als unzeitgemäß, ja sogar gesundheitsgefährdend dargestellt wurde. Die Stillraten sanken enorm, und so verloren auch die Frauenmilchbanken ihre Bedeutung. 1972 wurden die letzten Spenderbanken dichtgemacht. Es war das Münchner Klinikum Großhadern, das 2012 als erster Standort in den alten Bundesländern eine Frauenmilchbank wiedereröffnet hat. Seitdem entstehen immer mehr Milchbanken.
Marcus Krüger, Chefarzt der Neonatologie in der München Klinik Schwabing und Harlaching, wirft einen prüfenden Blick auf die Monitore und den kleinen Anton, nickt zufrieden und bedeutet dann der Reporterin, das Zimmer wieder zu verlassen. „Wir haben“, sagt er, nachdem er die Tür leise hinter sich geschlossen hat, „in den vergangenen Jahren bei der Versorgung von Frühgeborenen sehr viel erreicht.“ Selbst kleinsten Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht von unter 750 Gramm könne heutzutage ein guter Start ins Leben ermöglicht werden. „Und Muttermilch“, betont der Chefarzt, „spielt hier eine ganz entscheidende Rolle.“
Muttermilch besteht aus mehr als 2000 Inhaltsstoffen, von denen einige immer noch nicht vollständig entschlüsselt sind. Dieses Superfood der Natur wirkt gegen Bakterien, hemmt Entzündungen und stärkt das Immunsystem – und das sind nur einige der Gründe, warum die Muttermilch für alle Neugeborenen so wichtig ist. Für zu früh geborene Kinder gilt dies umso mehr.
„Es ist eindeutig wissenschaftlich belegt, dass auch die kleinsten Frühgeborenen durch die Ernährung mit Muttermilch einen Entwicklungsvorteil haben“, sagt Marcus Krüger. „Muttermilch fördert die neurokognitive Entwicklung und senkt gleichzeitig das Risiko einer schweren Darmentzündung, was mit das größte Risiko für frühgeborene Kinder darstellt.“
Rund eineinhalb Jahre haben die Vorbereitungen gedauert, um die Frauenmilchbank in Harlaching aufzubauen. Prozesse, Hygiene, Datenschutz, Schulung des Fachpersonals, gesetzliche Bestimmungen – Sabrina Weigel, die Stationsleiterin der Kinderintensivstation und auch Leiterin der Frauenmilchbank, bricht die Aufzählung ab und lacht. „Es war wirklich viel, was wir bedenken und etablieren mussten.“ Die Klinik musste zum Beispiel eine Genehmigung als Lebensmittelhersteller beantragen.
Auf der Intensivstation in Harlaching werden die Frühchen bereits wenige Stunden nach der Geburt das erste Mal mit Muttermilch versorgt. Das sei wichtig, sagt der Chefarzt, damit der Magen-Darm-Trakt sich an die Milch gewöhnen könne und auch der Darm sich entleert. Das Problem dabei ist: Die meisten Mütter haben zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausreichend Milch, weil sie sich gerade selbst von den Folgen der Geburt erholen oder weil es Vorerkrankungen gibt, die die Frühgeburt ausgelöst haben. „Auch ein Kaiserschnitt kann die Milchbildung verzögern“, sagt Weigel.
Früher, erzählt sie, habe man in solchen Fällen die Milch aus anderen Frauenmilchbanken kaufen müssen – aus Dresden oder Freiburg zum Beispiel. Aber das sei zeitweise schwierig gewesen, weil dort nicht immer genug Frauenmilch zur Verfügung stand. Auf dem freien Markt, den es tatsächlich für Muttermilch gibt, wollte man sich nicht bedienen. „Da wird die Milch verschiedener Frauen zusammengeschüttet und das entspricht nicht unseren Qualitätsanforderungen“, sagt Chefarzt Krüger. „Bei uns gilt: Ein Kind bekommt die Muttermilch von möglichst einer einzigen Spenderin.“ Grundsätzlich aber, ergänzt die Stationsleiterin, „ist es immer unser Ziel, dass die Mütter ihre Kinder mit der eigenen Milch versorgen können“.
Deshalb gibt es auf der Station auch eine umfangreiche Still- und Laktationsberatung. „Die Frauenmilchbank“, so Weigel, „ist hier eine wichtige Übergangslösung, die den Müttern gleichzeitig den Stress nimmt, jetzt schnell Milch produzieren zu müssen.“ Stress und Milchbildung vertragen sich nicht. Und schon eine Frühgeburt sei maximaler Stress. „Da soll sich die Mutter nicht auch noch darum sorgen müssen, wann bei ihr die reichliche Milchbildung einsetzt.“
Patientin wird später selbst zur Spenderin
In einem kleinen Extraraum auf der Intensivstation wurden die Tiefkühlschränke untergebracht, in denen die gespendete Muttermilch nun lagert. Sabrina Weigel öffnet kurz die Tür. Die Regale, in denen verschieden große Fläschchen stehen, sind gut gefüllt. Jedes Fläschchen ist mit einem Barcode versehen, der, wenn er ausgelesen wird, verrät, welche Frau zu welchem Zeitpunkt die Muttermilch gespendet hat.
Irgendwo in diesen Reihen stehen auch noch die Spenden von Anna-Katharina Scherer. Ihre Zwillinge Julius und Theodor kamen im Juni rund sieben Wochen zu früh auf die Welt und mussten neun Tage auf der Intensivstation und später noch einige Tage auf der Beobachtungsstation versorgt werden. In den allerersten Tagen wurden die beiden Buben mit Milch aus der Frauenmilchbank ernährt.
„Ich war sehr froh, dass es diese Möglichkeit gab, und habe sie auch dankbar angenommen“, sagt die 33-Jährige. Die Münchnerin konnte ihre Buben aber bald selbst versorgen. Und nicht nur das. „Ich hatte viel mehr Milch, als die Zwillinge benötigt haben“, sagt die junge Mutter. Diese Milch hat sie gespendet. Gefühlt, sagt sie und lacht, habe sie in der Zeit auf der Station ständig abgepumpt. „Aber ich habe es wirklich gerne gemacht“, sagt sie. „Dass ich einen kleinen Teil dazu beitragen konnte, dass es anderen Kindern gut geht, das hat mich stolz gemacht.“ (Beatrice Oßberger)
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