Ein taktiler Orientierungsplan für Blinde, eine App und ein Audiorundgang – 30 Studierende verschiedenster Fächer arbeiten in einem deutschlandweit einzigartigen Projekt daran, den Botanischen Garten in Würzburg auch für sehbehinderte Menschen zugänglich zu machen. Beraten werden sie dabei von der sehgeschädigten Würzburgerin Anette Romeis. Die Prototypen sind vielversprechend.
Noch ist ihre Quote in den Besucherstatistiken äußerst gering: Blinde und Sehbehinderte zählen zu den eher seltenen Gästen in Botanischen Gärten. Was vor allem daran liegt, dass sie große Probleme haben, sich in den weitläufigen Anlagen zu orientieren. In einem deutschlandweit einmaligen Projekt will der Botanische Garten Würzburg dies ändern: 30 Studierende verschiedener Fächer entwickelten zusammen mit Mitarbeitern der Uni-Einrichtung Konzepte zur inklusiven Gartengestaltung.
Inklusion meint, dass es keine Parallelwelt mehr geben soll. Alle sollen an allem teilhaben können. Sondereinrichtungen werden deshalb Zug um Zug aufgelöst. Barrieren nach und nach beseitigt. Vom Ideal Inklusion sei man derzeit allerdings noch recht weit entfernt, meint Anette Romeis. Die sehgeschädigte Würzburgerin kann den Botanischen Garten zum Beispiel noch nicht alleine erkunden. Dabei mag sie Pflanzen sehr. Sie kreierte deshalb mit drei Studierenden, darunter die 20-jährige Museologie-Studentin Nienke Wüst aus Aschaffenburg, einen taktilen Orientierungsplan für Blinde, der künftig am Eingang des Gartens aufgestellt werden soll. Beratungen von Betroffenen ist wichtig, damit solche Entwicklungen auch in der Praxis etwas taugen. Denn Menschen ohne Handicap können das nur bedingt wissen.
Neben Romeis engagiert sich auch Volker Tesar vom Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund (BBSV) für die Idee, den Botanischen Garten in Würzburg für Menschen ohne Augenlicht oder mit nur minimalem Sehrest zugänglich zu machen. Während Romeis noch durch einen „Tunnel“ sehen kann, erblindete der heute 59-jährige Tesar im Alter von 27 Jahren vollständig. Und tatsächlich: Erste Ideen stellten sich bei der Entwicklung des taktilen Orientierungsplans als nur bedingt praxistauglich heraus. „Unsere Aufgabe war ganz und gar nicht einfach“, erzählt Studentin Wüst. Alles, was im Botanischen Garten wichtig ist, sollte auf dem Plan zu finden sein. Gleichzeitig durfte die Tafel aber nicht überfrachtet werden. Schließlich ist es ziemlich anstrengend, Informationen taktil zu erfassen. Der schnelle Überblick, den sich Sehende verschaffen können, ist Blinden versagt.
Aufgrund dieser Erkenntnis wurde das ursprüngliche Modell in etlichen Überarbeitungsschritten immer weiter vereinfacht. Wer heute den fertigen Lageplan sieht, mag denken, das sei doch keine große Sache. Tatsächlich aber mussten die Studierenden lange an den verschiedenen Details tüfteln. Sie experimentierten mit Braille- und Pyramidenschrift, überlegten, welche Farbkontraste notwendig sind, und setzten sich, immer im Dialog mit ihren Ratgebern, mit der Frage auseinander, welche Piktogramme zum Einsatz kommen sollten. Für die Gebäude im Garten und die verschiedenen Anlagen suchten sie nach Materialien mit unterschiedlich strukturierten Oberflächen – etwa Moosgummi oder Schleifpapier. Mithilfe von Window Color – Fenstermalfarbe – wurden die Wege erfühlbar gemacht.
Auch Menschen ohne Handycap profitieren
An diesem Nachmittag prüft Anette Romeis den Dummy des taktilen Plans zum letzten Mal. Sie ist zufrieden. „Er hilft wirklich gut für eine erste, grobe Orientierung am Eingang des Gartens“, zollt die Beraterin den Studierenden ein dickes Lob. Dann geht es in das Tropenschauhaus und zum Test jenes Projekts, das Studierende der Museologie und der Sonderpädagogik mit Kommilitonen vom Studienfach Mensch-Computer-Systeme entwickelt haben. Es heißt „Gartenfreund“ und stellt einen spannenden Audiorundgang dar. Die App dazu kann sich jeder Besucher, bevor er das Tropenschauhaus betritt, herunterladen.
Dieser Rundgang konnte nur entwickelt werden, weil jeder sein spezielles Talent einbrachte, sagt Seminarleiterin Simone Doll-Gerstendörfer, Lehrbeauftragte für inklusive Kulturvermittlung an der Würzburger Uni. Der Rundgang führt zu Stationen, wo Besucher barrierefrei Näheres zu Besonderheiten im Tropenschauhaus erfahren können. Sie stoßen zum Beispiel auf das Tastmodell einer Frucht der Ölpalme. Außerdem entwickelten die Studierenden unter Leitung von Stephan Huber vom Fach Mensch-Computer-Systeme eine Soundkulisse. Sämtliche Infos entlang des Wegs sind über den Übertragungsstandard „Near Field Communication“ (NFC) abrufbar.
Je nachdem, in welchem Winkel man sein Handy mit der installierten App an den Stationen mit Soundkulisse hält, sind Tiere aus dem Kronendach, der Strauch- oder der Krautschicht des Tropenwalds zu hören. Da brüllen Affen, dazwischen werden Vogelstimmen vernehmbar. Lautstark quaken die auf Puerto Rico heimischen Coquí-Frösche, die wegen ihrer kräftigen Stimme so berühmt wurden, dass man sie zum Nationaltier des Landes wählte. Der Pfiff des Männchens klingt wie „ko-Quí“. Daher hat der Frosch seinen Namen.
Wie geräuschvoll es im Regenwald zugeht, erleben viele Besucher als Überraschung. Ob das wohl in Wirklichkeit so laut ist? Oder ging die Fantasie mit den Studierenden durch? Genau hier zeigt sich die Stärke des studentischen Inklusionsseminars. Viele brachten ihr Wissen ein, um am Ende etwas Authentisches zu schaffen. Die angehenden Museologen recherchierten, welche Tiere den Tropenwald in welchen Schichten zum Klingen bringen. Kerstin Bissinger vom Botanischen Garten checkte alle Fakten. Sonderpädagogik-Studentinnen gaben Vermittlungstipps. Studierende des Fachs Mensch-Computer-Systeme setzten den Input ihrer Kommilitonen raffiniert um.
Mit dem Projekt erfüllt sich ein lange gehegter Wunsch von Gerd Vogg, Kustos des Botanischen Gartens. Sein Ziel ist es, die Uni-Einrichtung für alle zugänglich zu machen. Zwar wird es noch eine ganze Weile dauern, bis die studentischen Prototypen im Botanischen Garten zum Einsatz kommen können. Doch immerhin ist ein erster Schritt gemacht, so Vogg. Kein anderer Botanischer Garten in Bayern sei in puncto Inklusion so weit wie jener in Würzburg.
Allerdings: Die Realisierung der Ideen ist mit finanziellen Problemen verbunden. Wie schnell die Vorschläge der Studierenden umgesetzt werden können, hängt laut Kerstin Bissinger, Koordinatorin des Projekts „LehrLernGarten“ im Botanischen Garten, davon ab, wie rasch Fördergelder fließen. Für die Umsetzung werden schätzungsweise 35 000 Euro benötigt: „Die entstandenen Prototypen müssen aus wetterfesten Materialien produziert werden, außerdem brauchen wir Personal für die künftige Projektsteuerung.“ Schließlich soll die studentische Initiative keine Eintagsfliege bleiben.
Das Team des Botanischen Gartens will weiter für die Idee „Inklusion“ kämpfen. Es geht, so Doll-Gerstenberger, ja keineswegs nur um die Bedürfnisse von blinden, hörbehinderten, kognitiv oder körperlich beeinträchtigten Menschen. Sondern wirklich um alle. Ein Paradebeispiel dafür ist die App „Gartenfreund“, die schon jetzt genutzt werden kann. Sie lotst Blinde durch das Tropenhaus, bietet aber auch allen anderen Besuchern zusätzliche Infos an. So kann jeder, der darauf Lust hat, die Gelegenheit wahrnehmen, über ein Tastmodell, eine Relieftafel und den Audiorundgang mehr über die Ölpalmenfrucht zu erfahren.
An einer der Vermittlungsstationen wird etwa erklärt, wie eine Ölpalme und wie ihre Frucht aussehen. Und es geht um die Frage, warum eigentlich der Regenwald für Palmöl abgeholzt wird. Dank der Recherche der Studierenden erfährt man: In Indonesien und Malaysia sollen fast 55 Millionen Tonnen Palmöl im Jahr produziert werden.
(Pat Christ)
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