Bereits im Alter von sechs Jahren sind drei Burschen aus Ohlstadt bei Murnau ihrem Sport verfallen: dem Fingerhakeln. Heute können sie bis zu 150 Kilo mit nur einem Finger heben. Am 12. August werden sie sich mit 80 Burschen aus ganz Bayern messen. Das Ziel: der bayerische Titel. Und damit das klappt, wird bereits kräftig geübt – stilecht im Landgasthof mit reichlich Bier.
Hände wie Baggerschaufeln. Eine Statur von Bauernschränken. Die Männer, die gerade zur Tür hereinkommen, tragen Lederhosen, haben scheinbar jede Menge Kraft im Kreuz und eine Elefantenhaut an den Händen. Die brauchen sie auch. Schließlich ziehen sie ihr Gegenüber über den Tisch, als wärs „a laare Hosn“, wie der Oberbayer schwächelnde Gegner gerne verspottet. Nicht aus Gehässigkeit. Nein, aus reinem Sportsgeist und im wörtlichen Sinne. Weil es in Bayern noch immer die Tradition des Fingerhakeln gibt, die als Kampfsport durchgeht. Früher wurden so Streitereien am Stammtisch ausgetragen. Heute ist Fingerhakeln ein richtiger Wettkampf-Sport zum Kräftemessen zweier Gegner. Er wird mit strengen Statuten ausgetragen. Es gibt zahlreiche Vereine, die ihre Meister küren und sich gegenseitig messen – wie jetzt wieder bei den Bayerischen Meisterschaften im Fingerhakeln am 12. August in Lenggries. 80 Fingerhakler kämpfen dann um den Titel vor bis zu 1500 Zuschauern.
Schon der Vater trug den bayerischen Titel
Weil Sieg und Niederlage beim Fingerhakeln abhängig ist von der Kraft des Mittelfingers, ist der natürlich am wichtigsten. „Der Finger muss möglichst dick sein – denn dann hält der Lederriemen gut“, sagt Josef Utzschneider junior. Der Mann muss es wissen. Im August will Utzschneider, der amtierende alpenländische Meister aus Werdenfels, den bayerischen Titel holen, den schon sein Vater trug. Inzwischen werden jährlich drei Meisterschaften ausgetragen: die Bayrische, die Alpenländische und die Deutsche.
Utzschneider und seine beiden Kumpels nehmen Platz im Landgasthof Herzogin Anna Schwaiganger. Der Landgasthof in Ohlstadt liegt ganz in der Nähe von Murnau und dem Staffelsee im Blauen Land, das so malerisch ausschaut wie es der Name verheißt. Die Stube ist urig, bei gutem Wetter sitzt man draußen im Biergarten unter alten Kastanien. „Gmiatli“ haben es die Fingerhakel-Buam gern, wie sie erzählen. Aber jetzt geht es erst mal zur Sache, bevor sie beim Bier und dem Fleischwurstsalat ordentlich zugreifen.
Die umliegenden Gäste wenden interessiert ihre Köpfe und vergessen die Teller mit Schweinebraten und Knödel, die vor ihnen stehen. Denn die drei gut gebauten Männer pudern jetzt ihre Mittelfinger mit Magnesiumpulver und packen einen zehn Zentimeter langen Lederriemen auf den Tisch.
Das Prozedere ist relativ simpel: Beide Kontrahenten sitzen sich jetzt wie beim Armdrücken gegenüber, stemmen die Knie gegen eine extra vorher präparierte, gepolsterte Unterlage an der Tischkante. Die Tischplatte ist 109 mal 74 Zentimeter groß, in der Mitte ist sie durch eine Linie geteilt. Sie fädeln die Finger in eine Schlaufe – den Lederriemen – und warten auf das altbekannte Kommando: „Beide Hakler, fertig, ziagt’s!“ Und: Die Jungs zerren aneinander.
Schaut ein bisschen aus wie beim Tauziehen, nur ohne Tau. Sie legen sich nach hinten, stöhnen, schwitzen, blasen furchteinflößend die Backen auf. Schluss. Aus. Vorbei. Der Linienrichter gibt ein Zeichen, als der Eine über den kompletten Tisch gezogen ist. Keine zehn Sekunden hat der Spaß gedauert.
Bewertet wird nach Punkten. Nach einer kurzen Pause und einem kräftigen Schluck geht es weiter. Wer zweimal verliert, ist K.O. und scheidet aus. „Schaut kurz aus. Trotzdem zehrt so ein Kampf ordentlich an den Kräften“, sagt Josef Hartl, der den jungen Burschen zuschaut. „Wer richtig gut in Form ist, hebt mit seinem Mittelfinger bis zu 150 Kilo, dafür ist kurz vor Wettkampfbeginn tägliches Training nötig.“ Der 53-Jährige kennt sich aus, ist er doch Vorsitzender des Fingerhakel-Vereins Isargau. „Länger als eine Minute hält da niemand durch“, so der Profi.
„Keine Frau würde sich die Finger derart ramponieren“
Seit 36 Jahren reißt Hartl sich selbst am Riemen. Gemeinsam mit seinen Vereinskameraden richtet er die 59. Bayerische Fingerhakel-Meisterschaft aus, im Rahmen der Lenggrieser Festwoche. Er setzt große Hoffnungen auf seinen Verein. Im Hakeln um den Sieg, sagt er, zählen nicht nur Kraft, Ausdauer und Technik, sondern auch die Unterstützung aus dem Publikum. „Es ist ein reiner Männersport, denn kaum eine Frau würde es einfallen, sich derart die Finger zu ramponieren.“ Sagt es, und schaut verlegen auf seine lädierten Hände, die an gewaltige Baggerschaufeln erinnern.
Im Wirtshaus gibt es natürlich immer mal Nachahmer – und auch Nachahmerinnen. Doch ernst genommen werden fingerhakelnde Frauen von den Mannsbildern natürlich nicht. Fingerhakeln ist und bleibt ein Männersport: Auch weil die Kerle früher am Stammtisch damit um die Frauen kämpften. Noch heute erinnert das Ganze entfernt an das Balzgehabe zweier Auerhähne.
Wer seinen Gegner am Finger über die Seitenlinien auf dem Tisch zieht, hat gewonnen. Wie beim Boxen werden die Hakler nach Kilos klassifiziert: Leicht-, Mittel- und Halbschwergewicht. „Wer mehr als 90 Kilo auf die Waage bringt, tritt im Schwergewicht an“, erklärt Schneider. Und dann heißt es: Mann gegen Mann. Utzschneider spielt in der ersten Runde den Linienrichter. Die Männer, die sich gerade mit einem Riemen verhakt haben, hakeln seit sie sechs Jahre alt sind. „Spaß macht es wie eh und je“, sagen sie heute.
Wer den Gegner beschimpft, wird sofort disqualifiziert
Und nebenbei wird Tradition gelebt: „Hier bei uns werd no boarisch gredt, gessn, gsunga und gspuilt,“ sagt ein Einheimischer in Lederhosen und mit Schnauzer im Gesicht. Er lacht und prostet den Gästen zu. „Bitte, was?“ sagt eine blonde, groß gewachsene Frau aus Bremen. Ihr Gesicht meint: „Hilfe! Kann das mal jemand übersetzen?“
Und dann sind die Burschen thematisch in ihrem Element: Sie erzählen vom Alphornblasen, Stoahebn, Schuhplatteln, Goaßn-abtrieb und Goaßlschnalzn, das melodische Knallen mit der Geißel – alles in Mittenwald oder rund um Garmisch-Partenkirchen hochgehaltene Tradition. Und wer das Fingerhakeln einmal live erleben will, muss abends nur mal in Ohlstadt oder in einer der umliegenden Orte ins Wirtshaus gehen, wo wie an diesem Abend die Kneipe zur Wettkampfarena wird und nicht nur reichlich Schweiß fließt, sondern auch das Bier in Strömen.
Kein Wunder also, dass es die Regel 44 gibt: Jeder Wettkämpfer wird mit Blick auf den Bierkonsum darin verpflichtet, „alle ausfälligen Äußerungen gegenüber dem Schiedsrichter, dem Kampfgericht oder seinem Gegner zu unterlassen“. Und meist halten sich die Wettkämpfer sogar daran. Denn Zuwiderhandlungen „werden mit sofortiger Disqualifikation geahndet“. (Claudia Schuh)
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