Es war nicht zuletzt der Fall Gustl Mollath, der sie ermutigt hat. Ermutigt dazu, sich zusammenzutun und gemeinsam zu kämpfen. Einmal im Monat treffen sich Menschen, die sich von Justiz, Politik und Versicherern betrogen fühlen, im Hinterzimmer eines Gasthauses in München-Ramersdorf. Um sich gegenseitig Mut zuzusprechen und um Gerechtigkeit zu fordern. Seit August 2014 gibt es in München den Verein Justiz-Opfer. Innerhalb des ersten Monats traten 60 Menschen ein. Und ständig kommen neue hinzu. Aktuell hat er bereits mehr als 100 Mitglieder. „Jede Woche erhalte ich drei bis fünf neue Zuschriften“, sagt Christoph Klein, Initiator und Vorstandvorsitzender des Vereins. „Es sind Schilderungen, die mir das Herz zerreißen.“
An diesem Abend sind etwa 30 Mitglieder nach Ramersdorf gekommen. Und wenn sie von ihrem Schicksal erzählen, schwirrt einem der Kopf. Zum einen, weil Detail an Detail aneinandergereiht wird, die einen Außenstehenden schnell überfordern. Zum anderen aber auch, weil es so unglaublich klingt, was diese Menschen erzählen. Meist liegt ein jahrelanger, wenn nicht jahrzehntelanger Kampf vor Gericht hinter ihnen. Ein Kampf, der manche resignieren lässt. Aus anderen dagegen sprüht die Wut darüber „als Spielball einem System ausgeliefert zu sein“, das in ihren Augen in Teilen voreingenommen ist, wenn nicht gar korrupt.
Eine Teilhabe am Leben ist gar nicht mehr möglich
Geschildert werden an diesem Abend Tragödien wie die von Eva-Maria Adrian, die vor knapp 20 Jahren einen unverschuldeten Autounfall hatte. Noch heute leidet die 63-Jährige an den Folgen, hat so große Schmerzen, dass sie nicht arbeiten kann. Doch Gutachter behaupten: Die Schmerzen von heute hätten mit dem Unfall nichts mehr zu tun. Die Folge: Sie blieb auf dem Großteil der Ausgaben, die aufgrund des Unfalls auf sie zukamen, sitzen. Heute lebt sie von Hartz IV. „Ich bin meiner Gesundheit, ja meines Lebens beraubt“, klagt Adrian. „Denn eine Teilhabe ist unter diesen gesundheitlichen und auch finanziellen Bedingungen gar nicht mehr möglich.“
Auf die Expertise von Gutachtern gibt auch Vorstandsmitglied Thomas Repp nicht mehr viel. Er ist sich sicher: Einige Gutachter seien schlicht gekauft. Es war der 13. März 1995, als die Berufsgenossenschaft den heute 56-Jährigen gesund und voll arbeitsfähig schrieb. Zu diesem Zeitpunkt lag er nach Spätfolgen eines Verkehrsunfalls im Koma. „Sich aufzuraffen und weiterzukämpfen“, fällt ihm heute schwer. Ohne Schmerzmittel geht gar nichts. „Aber es kämpft ja niemand anderes für mich“, sagt Repp. „Dabei kann es jeden treffen.“
Den Opfern eine Stimme geben, auch das ist ein Ziel des Vereins. Und da die Zuhörerschaft im Hinterzimmer der Gaststätte begrenzt ist, veranstaltet Repp gemeinsam mit Ehrenmitglied Horst Glanzer am 7. Mai auf dem Münchner Marienplatz eine große Kundgebung. Glanzer ist der Mann, ohne den es den Verein wohl nie gegeben hätte. Der ehemalige Polizist kämpft seit fast 12 Jahren gegen die

Justiz. Auch er ist schwerkrank – und hoch verschuldet. Aus Sicht des Niederbayern, weil zwei Versicherer viel zu spät die Kostenübernahme der Behandlung einer Spezialklinik in der Schweiz bewilligt haben.
Aber nicht nur Geschädigte werden am 7. Mai von 10 Uhr bis 22 Uhr auf der Veranstaltung zu Wort kommen. Auch Prominenz hat sich angekündigt. Die ehemalige FDP-Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger will am Nachmittag sprechen, ebenso der frühere CDU-Bundesarbeitsminister Norbert Blüm. Aus dem Landtag hat Katharina Schulze, Vize-Vorsitzende der Grünen, zugesagt. „Der Verein leistet einen wichtigen Beitrag, Menschen zu helfen, die durch das Raster unserer Rechtsstaats fallen und Opfer von eklatanten Lücken unseres Justizsystems geworden sind“, sagt Schulze. „Dieses Engagement ist mutig, denn leider haben diese Menschen eben keine starke Lobby hinter sich, die ihnen den Rücken stärkt.“ Sie unterstützt die Forderung des Vereins, einen eigenen Fonds zu gründen, um Opfer auch dann angemessen zu entschädigen, wenn sie durch das derzeitige Raster fallen. „Denn bislang kann vielen Härtefällen nicht geholfen werden.“ Ebenfalls auf Repps und Glanzers Liste stehen der Münchner Rechtsanwalt Andreas Geipel, der Justizopfer vor Gericht unterstützt, und Gudrun Rödel, Betreuerin von Ulvi Kulac, der – vom Vorwurf des Mordes an der vermissten Peggy Knobloch freigesprochen – endlich bald aus der Psychiatrie entlassen werden soll.
„Es war nie mein Interesse in die Öffentlichkeit zu gehen“, sagt Thomas Repp. Und auch vielen anderen dürfte der Schritt auf das Podium nächste Woche nicht leichtfallen. „Doch wir wollen den Leuten Mut machen, sich zu wehren“, so Repp. Keineswegs ginge es darum, die gesamte Justiz an den Pranger zu stellen, betont er. „Aber die schwarzen Schafe.“ Und von denen scheint es einige zu geben, stimmt auch nur ein Bruchteil der Geschichten der Mitglieder des Justiz-Opfer-Vereins. (
Angelika Kahl)
Anmerkung der Redaktion: Ursprünglich hieß es im Text, dass Ulvi Kulac vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs an der vermissten Peggy Knobloch freigesprochen wurde - das ist nicht richtig und wurde entsprechend geändert. Wir bedauern diesen Fehler.
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