Anfangs hatte Mohammed Ali Erouiah Zweifel: Wie wird das Leben in Deutschland sein? Und wie die Arbeit mit alten Menschen? Seit September ist der 24-jährige Marokkaner Pflege-Azubi in einem Seniorenzentrum in Marktheidenfeld. Und hat dort mit Professionalität, Charme und Einfühlungsvermögen die Herzen der Heimbewohner im Sturm erobert.
Das erste Vierteljahr war schwierig. „Ich habe fast nichts verstanden“, sagt Mohammed Ali Erouiah. Zwar hatte der junge Marokkaner in seinem Heimatland einen Sprachkurs absolviert, bevor er im Oktober 2018 aus der Hafenstadt Kenitra nach Deutschland kam, um eine Ausbildung als Altenpfleger zu beginnen. Doch was der 24-Jährige in dem Kurs gelernt hatte, das merkte er vor Ort schnell, war dürftig. Das Hauptproblem aber: An seinem Arbeitsplatz, dem diakonischen Seniorenzentrum Haus Lehmgruben im unterfränkischen Marktheidenfeld, sprechen die Bewohner kein Hochdeutsch. Sondern Dialekt.
Trotz Wirtschaftswachstum hat Marokko ein großes Problem: Die Jugendarbeitslosigkeit dort ist immens, liegt bei 20 bis 30 Prozent. Viele junge Menschen wie Mohammed Ali Erouiah verlassen deshalb ihr Heimatland. „Ich bekomme von Agenturen fast täglich junge Menschen aus Marokko angeboten, die hier in der Pflege arbeiten wollen“, sagt Andrea Keller, stellvertretende Leiterin des Hauses Lehmgruben. Auf drei marokkanische Azubis, die ihr von der Marktheidenfelder Berufsfachschule für Altenpflege empfohlen wurden, hat sie sich bisher eingelassen. Und hat es nicht bereut. Im Gegenteil: Die drei zeichnen sich nicht nur durch Tüchtigkeit im Beruf, sondern vor allem durch ein äußerst angenehmes Wesen aus, lobt Keller. „Alle sind total aufgeschlossen und haben einen großen Respekt vor dem Alter.“
Und so kommen die Azubis aus Marokko auch bei den Heimbewohnern bestens an. Bei Katharina Haßmüller zum Beispiel. Die 84-jährige Bewohnerin des Hauses Lehmgruben hat vor allem Mohammed Ali Erouiah in ihr Herz geschlossen. „Das ist so ein schöner, freundlicher Mann“, schwärmt die Seniorin. Dass sie sich in den ersten Wochen noch kaum mit ihm verständigen konnte, sei nicht schlimm gewesen: „Wir haben mit den Händen und unseren Augen gesprochen.“ Auch die Kollegen störte es nicht, dass Erouiah am Anfang zahlreiche Male nachfragen musste, weil er etwas nicht verstand.
Aber nicht nur die Sprache machte Erouiah anfangs zu schaffen. Sondern auch das üble Wetter bei seiner Ankunft. Stark erkältet brauchte er einen Arzt. „Ich hatte aber keine Ahnung, wie das hier funktioniert“, so Erouiah. Zum Glück gibt es einen Onkel, der in Nürnberg arbeitet. Vize-Leiterin Keller rief ihn an, der Erouiah übersetzte, was er tun müsse, um zu einem Arzt zu kommen.
„Das Team hier ist absolut super“, lobt der junge Mann. Inzwischen spricht Erouiah nahezu perfekt Deutsch. Deshalb stieg er im September 2019 offiziell in die Lehre zum Altenpfleger ein. Hinter ihm liegt ein Freiwilliges Soziales Jahr, in dem er eine Menge gelernt hat. Was Pflege anbelangt. Vor allem aber auch, was die deutsche Sprache betrifft. Sogar den Spessartdialekt kann Erouiah mittlerweile ganz gut verstehen. Wenn Katharina Haßmüller zum Beispiel von ihrem „Mo“ spricht, weiß der Marokkaner, dass sie damit ihren verstorbenen Mann meint.
Für viele junge Menschen ist schon der Gedanke an Alter und Tod abschreckend. Unmittelbar damit konfrontiert zu werden, können sie sich nicht vorstellen. Auch darum sinkt die Zahl der Pflege-Azubis. Erouiah musste anfangs ebenfalls manchmal schlucken: „Ich hatte in Marokko niemals mit Menschen zu tun, die an Demenz leiden.“ Heute ist es für ihn ganz normal, mit demenziell veränderten Menschen umzugehen. Gerade hier, sagt Erouiah, komme es oft zu Glücksmomenten. „Wenn ein alter Mensch, der keine Namen mehr weiß, weil er sie sich nicht mehr merken kann, ‚Danke schön!‘ zu mir sagt, wenn ich gehe, dann ist das sehr berührend.“
Heute ist Erouiah froh, dass er seine anfänglichen Zweifel, was den Beruf des Altenpflegers anbelangt, besiegt hat. Ursprünglich, sagt er, sei es nämlich nicht sein Ziel gewesen, in diesen Job einzusteigen. „Ich habe in Marokko vier Semester Chemie und Physik studiert“, erzählt er. Sein Traum sei es gewesen, dieses Studium in Deutschland fortzusetzen. Doch schnell stellte sich heraus, dass seine Sprachkenntnisse nicht reichen. „Mein Onkel, der im Außendienst arbeitet, kannte die Altenpflegeschule in Marktheidenfeld“, erzählt Erouiah. Er schlug vor, sich dort zu bewerben. Was Erouiah nach kurzer Bedenkzeit dann auch tat.
Aus der Bibel vorlesen? Kein Problem für den Muslim
Von Tag zu Tag gewann der junge Mann mehr Routine im Umgang mit alten Menschen. Nach fünf Monaten war für ihn klar: „Ja, ich möchte diesen Beruf erlernen.“ Seit September besucht der Marokkaner nun neben dem Job die Berufsschule. Das sei sehr interessant. „Wir haben Anatomie, aber auch Psychologie, um die alten Menschen besser zu verstehen.“ Schwer fallen dem 24-Jährigen die Fächer Rechts- und Sozialkunde. Mit Mühe hatte er sich in den letzten Monaten das pflegerische Vokabular angeeignet. Nun tauchen ganz neue Fachwörter auf, die gebüffelt werden müssen.
Durch die Arbeit sei ihm bewusst geworden, welches Geschenk es ist, gesund zu sein, sagt Erouiah: „Mir hat sich überhaupt die Frage nach dem Sinn des Lebens noch einmal ganz neu gestellt.“ Ergreifend ist für ihn, mitzubekommen, was an Leben hinter den von ihm betreuten Senioren liegt. „Sie waren alle auch einmal jung, waren kräftig und haben eine Menge in ihrem Leben gemacht.“ Viele Frauen haben mehrere Kinder großgezogen. In oft schwierigen Zeiten. Die Männer gingen körperlich anstrengenden Berufen nach. Fotos an den Wänden erzählen von vielen glücklichen Momenten aus früheren Tagen.
Von den Bewohnern, sagt Andrea Keller, habe sich niemand quergestellt, als sie vor fünf Jahren begann, Kräfte aus dem Ausland in ihr Pflegeteam einzubinden. Selbst die unterschiedliche Religion spielt keine Rolle. Das Haus Lehmgruben ist eine Senioreneinrichtung der Rummelsberger Diakonie, also evangelisch. Viele Bewohner, so auch Katharina Haßmüller, sind katholisch. Dass ihr Lieblingspfleger Muslim ist, sei überhaupt kein Problem, betont die 84-Jährige und nimmt Erouiahs Hand. „Wir alle haben einen einzigen Herrgott.“ Erouiah nickt. Er sei in großem Respekt vor der christlichen und jüdischen Religion erzogen worden, sagt er.
Mit seinem Charme, vor allem aber auch durch seine tolerante Haltung gewann Erouiah die Herzen der alten Leute im Nu. Selbstverständlich, sagt er, begleitet er die Senioren in die Kirche. Da habe er überhaupt keine Berührungsängste. „Wenn das jemand mag, lese ich ihm auch aus der Bibel vor.“ Am Anfang wurde er gefragt: „Darfst du das denn?“ Erouiah, der seinen Glauben intensiv praktiziert und den Koran gut kennt, antwortete dann schmunzelnd: „Nirgendwo steht, dass mir das verboten wäre.“ Auch wie vor Kurzem noch Weihnachtslieder mitzusingen, sei kein Problem.
Als Altenpfleger bekommt man das pralle Leben mit. Man ist mit großer Freude an kleinen Dingen, aber auch mit sehr Traurigem konfrontiert. So erfährt Mohammed Ali Erouiah manchmal bei der Übergabe, dass sich der Zustand eines Bewohners in den wenigen Stunden zwischen seinem letzten Dienst und jetzt dramatisch verschlechtert hat. Immer wieder sterben Patienten. Erouiahs großes Ziel ist es, den Menschen in ihren letzten Lebensjahren so viel Angenehmes wie möglich zukommen zu lassen. „Bei allem, was ich mache, frage ich mich, ob es mir angenehm wäre, so oder so gepflegt zu werden“, verrät der Marokkaner sein pflegerisches „Erfolgsgeheimnis“.
Nicht nur im Heim, sondern auch in seiner neuen Heimatstadt fühlt sich Erouiah gut angenommen. Noch nie wurde er mit dümmlichem Gerede über Ausländer konfrontiert. Auch das hat ihm den Neuanfang leicht gemacht. „Ich habe mich hier vom ersten Tag an wohlgefühlt.“ Nicht überall in Deutschland ist das so, weiß der junge Mann: „Ich war einmal in Halle und in Leipzig, da hatte ich, muss ich sagen, echt ein bisschen Angst.“ Die Leute hätten ihn so komisch angeguckt. Misstrauisch. Fast feindselig. Als gehöre er nicht hierher. Das sei keine gute Erfahrung gewesen. Als Erouiah wieder in Marktheidenfeld war, hat er deshalb aufgeatmet. (Pat Christ)
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