Leben in Bayern

Immer häufiger findet man auch auf bayerischen Friedhöfen Gräber von sogenannten Sternenkindern. Erst seit 2006 haben Eltern, deren Kinder vor, während oder direkt nach der Geburt gestorben sind, das Recht auf eine Bestattung. (Foto: Pat Christ)

17.11.2022

Wenn ein kurzes Leben erlischt

Ein Bestatter aus Dammbach im Spessart engagiert sich für Eltern von Sternenkindern – erst seit 2006 haben sie das Recht auf eine Bestattung

543 Kinder sind im vergangenen Jahr in Bayern tot auf die Welt gekommen. Sie werden auch Sternenkinder genannt. Für betroffene Eltern ist solch ein Erlebnis oft traumatisch. Doch wie können sie in würdigem Rahmen Abschied nehmen? Bestatter Sebastian Brand aus Unterfranken hat darauf eine Antwort: Er bietet Eltern von Sternenkindern seine Dienste an – ohne daraus Profit zu schlagen. 

Vielleicht hat man eigens ein neues Quartier bezogen. Um mehr Platz zu bieten. Das Kinderzimmer wurde in den letzten Wochen liebevoll eingerichtet. Da steht der Wickeltisch. Dort ein Schaukelpferd. Hier stapeln sich Lätzchen, Strampler. Dann kommt das Baby tot zur Welt. „Immer wieder hatte ich mit solchen Eltern Kontakt“, erzählt Sebastian Brand (kleines Foto). Der Bestatter aus dem Spessart begann, sich zu überlegen, welche Hilfe er Müttern und Vätern in dieser krassen Ausnahmesituation bieten könnte.

Zu erleben, dass das langersehnte Kind tot zur Welt kommt oder kurz nach der Geburt stirbt, raubt einem den Schlaf. Es stürzt in Verzweiflung. Wenn nicht gar in Depressionen. „Besonders tragisch ist, dass die Eltern sich kaum trauen, ihre Trauer nach außen zu zeigen“, sagt Sebastian Brand. Das Umfeld könne das unermessliche Leid der Mütter und Väter kaum nachvollziehen. Da heißt es zum Beispiel lapidar: Das Kind habe doch noch gar nicht „richtig“ gelebt. „Oder die Leute meinen, es könne doch noch gar keine richtige Bindung entstanden sein, aber das stimmt nicht, da eine Bindung entstehen kann, sobald die Mutter merkt, dass sie schwanger ist“, sagt der 35-Jährige.

Der Tod eines Kindes sei die Spitze des Eisbergs, der aus dem Meer des Tabuthemas Tod und Trauer herausragt, heißt es vom Sternenkinderzentrum Odenwald, mit dem Sebastian Brand eng kooperiert. Laut dem Zentrum glauben die meisten verwaisten Eltern, dass sie mit ihrem Schicksal weitgehend alleine wären. Doch das stimmt nicht.

Zahlen des Statistischen Landesamts belegen, dass immer mehr Kinder tot zur Welt kommen. Laut Pressestelle gab es vor genau zehn Jahren einen erfreulichen Tiefststand in Bayern. Damals wurden 303 Kinder tot geboren. Im letzten Jahr wurden 543 Totgeburten registriert. Dies bedeutet eine eklatante Steigerung um 80 Prozent. Trotz dieser hohen Zahlen tragen sich die wenigsten Bestatter mit dem Gedanken, welche speziellen Angebote sie Eltern von Sternenkindern unterbreiten könnten.

Sebastian Brand setzt sich seit zwei Jahren intensiv mit dieser Thematik auseinander. In Helga Schmidtke vom Sternenkinderzentrum Odenwald fand er eine Mentorin. Helga Schmidtke ist Krankenschwester, Pädiatrische Palliative-Care-Pflegefachkraft sowie Kinder-, Jugend- und Familientrauerbegleiterin. „Von ihr habe ich gelernt, wie man gut mit Eltern von Sternenkindern umgeht“, erzählt Brand. Inzwischen hat der Bestatter aus Dammbach in Unterfranken rund 25 Mütter und Väter von Sternenkindern begleitet.
Vorbildliches Gesetz

Betroffene hatten sich jahrelang darum bemüht, dass ihre Sternenkinder würdig bestattet werden. Früher hatte man abgegangene Föten in der Klinik einfach entsorgt. Wie Müll. Seit 2006 haben Eltern eines abgetriebenen, eines fehl- oder tot geborenen Kindes in Bayern einen Rechtsanspruch auf Bestattung. Vor 16 Jahren hatte der Freistaat das für den Umgang mit fehl- und tot geborenen Kindern beste Bestattungsrecht von allen Bundesländern besessen. Es geht so weit, dass Träger von Kliniken seitdem per Gesetz verpflichtet sind, verwaiste Eltern über ihr Recht auf eine Bestattung hinzuweisen.

Niemand kann dem Schicksal in die Karten sehen. Leid passiert. Wahllos. Ohne Begründung. Ohne Logik. Die Frage „Warum wir?“ treibt viele Eltern tief in ihre Trauer hinein. Manche beschließen, keine weiteren Kinder mehr zu bekommen. Unvorstellbar wäre es für sie, das, was sie mit ihrem Sternenkind erlebt haben, am Ende noch einmal durchleiden zu müssen.

Brand versucht, Mut zu machen. Ein Kind, das würdig bestattet wird, hat nach seinen Worten einen unverrückbaren Platz in der Familie. Es lebt womöglich in einem Geschwisterchen, das später zur Welt kommt, fort. Niemals wird es als Mitglied der Familie vergessen sein. Brands Lebensbejahung steckt an. Durch seine Feinfühligkeit ist es Eltern von Sternenkindern möglich, sich ihm rasch zu öffnen.

Dass sich der Bestatter aus dem Spessart auf Sternenkinder spezialisiert hat, kommt nicht von ungefähr. „Mein ältester Bruder ist mit 21 Jahren bei einem Unfall tödlich verunglückt“, erzählt er. Mit den Bestattern habe die Familie damals „ganz schlechte Erfahrungen“ gemacht: „Da war einfach null Empathie.“ Bei der Gestaltung des Abschieds sei man überhaupt nicht auf den verstorbenen Bruder eingegangen. Er selbst, der damals sieben Jahre alt gewesen war, habe keine Chance erhalten, den Bruder noch einmal zu sehen.

Heute engagiert sich Brand quasi ehrenamtlich für Sternenkinder, da er moralische Bedenken haben würde, dies zu einem Geschäftsfeld innerhalb seines Bestattungsinstituts auszubauen: „Das würde sich einfach falsch anfühlen.“ Der selbst kinderlose junge Mann möchte allen Eltern von Sternenkindern, ganz unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Lage, helfen, sich auf eine gute und würdige Weise von ihrem Kind zu verabschieden. Eltern, die sich das leisten können, bittet er lediglich um Materialkosten. Etwa für die Schiffchen, die in seinem Bestattungsinstitut von einer Mitarbeiterin als Alternative zu einer „Holzkiste“ kreiert werden.

Gedenktag im Dezember

Brand weiß, wie leer und nutzlos sich Eltern fühlen können, wenn sie ihr Kind verloren haben. Und zwar ganz egal, wie lange das Kind im Bauch der Mutter herangewachsen war. „Würdig Abschied zu nehmen ist wichtig, auch wenn das Kind schon in der 15. Schwangerschaftswoche abgegangen ist“, sagt er. Eltern, die wissen, dass sie die Schwangerschaft unterbrechen müssen, weil das Kind im Bauch keinerlei Überlebenschance hat, ermutigt er, sich mit der Abtreibung Zeit zu lassen: „Viele denken, sie müssen das sofort machen, doch dem ist nicht so.“
Seit 1997 gibt es jedes Jahr am zweiten Sonntag im Dezember einen „Weltgedenktag für verstorbene Kinder“, bei dem mit Kerzen und dezenter Orgelmusik all jener Kinder gedacht wird, die vor, während oder kurz nach der Geburt die Erde wieder verlassen haben. Heuer fällt das „Worldwide Candle Lighting“ auf den 11. Dezember.

Jede Art und Weise, auf das Thema Sternenkinder aufmerksam zu machen, findet Brand gut. „Ich würde mir insgesamt noch sehr viel mehr Öffentlichkeitsarbeit wünschen“, sagt er. Wünschen würde er sich außerdem, dass untersucht wird, warum es denn bundesweit zu derart erschreckend steigenden Zahlen von Totgeburten kommt.

Statistisch ist es normal, dass das Pendel mal in die eine und mal in die andere Richtung ausschlägt. 2011 zum Beispiel gab es 317 Totgeburten in Bayern. 2012 sank die Zahl leicht auf 303, 2013 lag sie dann bei 344. Aber wie kommt es zu einem Anstieg auf 543 Fälle im Jahr 2021?, fragt sich Brand. Zumal die Zahlen nicht nur in Bayern steigen. Bundesweit ist dieser Trend zu beobachten. Laut Statistischem Bundesamt kamen 2007 jeweils 3,5 von 1000 Kindern tot zur Welt. Vergangenes Jahr waren es 4,3 und damit 24 Prozent mehr.

Corona als Faktor?

Ein Faktor ist das zunehmende Alter der Frauen bei der Geburt. Dies alleine erklärt laut Deutschlands Statistiker*innen jedoch die immense Steigerung nicht. Für manche Beobachter liegt es auf der Hand, dass dies irgendetwas mit der Corona-Krise zu tun hat. Zumal die Geburtenzahlen gleichzeitig drastisch sinken. Auch dies bestätigen Auswertungen des Statistischen Bundesamts. Von Januar bis Juli 2022 kamen demnach in Deutschland knapp 419 000 Kinder zur Welt. Dies waren um 7,3 Prozent weniger Geburten als im Vergleichszeitraum im Durchschnitt der Jahre 2019 bis 2021.
Im August nahm die SPD-Bundestagsabgeordnete Heike Baehrens dazu Stellung. Sie betonte auf Anfrage, dass ein direkter Zusammenhang der Geburtenzahlen mit den Covid-19-Impfungen „bisher in keiner Studie nachgewiesen werden“ konnte. (Pat Christ)
 

Kommentare (0)

Es sind noch keine Kommentare vorhanden!
Die Frage der Woche

Soll die tägliche Höchstarbeitszeit flexibilisiert werden?

Unser Pro und Contra jede Woche neu
Diskutieren Sie mit!

Die Frage der Woche – Archiv
Vergabeplattform
Vergabeplattform

Staatsanzeiger eServices
die Vergabeplattform für öffentliche
Ausschreibungen und Aufträge Ausschreiber Bewerber

Jahresbeilage 2024

Nächster Erscheinungstermin:
28. November 2025

Weitere Infos unter Tel. 089 / 29 01 42 54 /56
oder
per Mail an anzeigen@bsz.de

Download der aktuellen Ausgabe vom 29.11.2024 (PDF, 19 MB)

E-Paper
Unser Bayern

Die kunst- und kulturhistorische Beilage der Bayerischen Staatszeitung

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.