Endlich mal so richtig die Wohnung ausmisten – was wie ein typischer Vorsatz zum neuen Jahr klingt, ist für manche Menschen unvorstellbar. Auch Amelie A.s Wohnung glich einer Müllkippe – am Ende konnte sie noch nicht einmal die eigene Toilette benutzen. Doch dank des Münchner Vereins H-Teams hat es die ehemalige Krankenschwester geschafft: zurückzukehren in ein geordnetes Leben.
Am Ende war die Wohnung von Amelie A. nicht mehr begehbar. Der einzige freie Platz in dem 45 Quadratmeter großen Apartment war ein etwa 15 Zentimeter großer Spalt, der es ermöglichte, die

Wohnungstüre ein wenig zu öffnen. Ansonsten stapelten sich in den Räumen die Müllsäcke, im Badezimmer bis unter die Decke. Diesen Raum hatte die 50-Jährige vor acht Jahren zum letzten Mal betreten.
Auch das Wohnzimmer glich einer Müllkippe, war mit Säcken voller Abfall übersät. Amelie A. schlief in einer Mulde des Müllbergs, hatte dort auch eine Leselampe befestigt. Diesen Platz verließ sie lediglich, um Einkaufen zu gehen. Auf diesen Wegen benutzte sie die öffentlichen Toiletten. Die Wohnung der ehemaligen Krankenschwester hatte seit zehn Jahren kein anderer Mensch mehr betreten.
Doch das gehört nun der Vergangenheit an. Auch dank Wedigo von Wedel. Der 55-jährige Pädagoge sitzt hinter seinem Schreibtisch im Ladenbüro des Münchner Vereins H-Team. Von Wedel betreut dort das bundesweit einzige „Messie-Telefon“ – erreichbar unter der Rufnummer 089/55 06 48 90. Er berät Menschen mit einer zwanghaften Sammelleidenschaft, die nichts weggeben können. Und auch deren Angehörige bietet er Hilfe an.
„Gerade hatte ich eine Mutter am Telefon, die über ihre Tochter und deren Zustand der Wohnung verzweifelt“, berichtet von Wedel. Die Tochter, Anfang 30, ist erwerbslos, „kriegt nichts auf die Reihe“. Auch bei Amelia A. begann der Zustand der Verwahrlosung mit der Kündigung der Arbeitsstelle. Sie wurde depressiv und brach den Kontakt zu den Bekannten ab, Angehörige hat sie in München keine. Sie begann, sich in ihrer Wohnung zu verbarrikadieren.
Fürs Büro lagert die Wäsche schon mal im Schließfach
Doch es ist keineswegs so, dass das Messie-Phänomen, die Verwahrlosung der Wohnung durch Müll, Schmutz und gesammelte Gegenstände, nur „sozial Schwache“ betrifft. Auch Berufstätige berät von Wedel immer wieder. Seit 25 Jahren beschäftigt er sich mit dem Problem und kennt auch viele Fallbeispiele aus „bürgerlichen“ Kreisen. Da war zum Beispiel die Frau mit einer leitenden Funktion in einem Großraumbüro. Obwohl ihre Wohnung nahezu nicht mehr betretbar war, schaffte sie es, den äußeren Schein in ihrem Beruf aufrechtzuerhalten. Dazu hatte sie sich am Münchner Hauptbahnhof Schließfächer angemietet, in die sie sowohl ihre Schmutzwäsche deponierte als auch die saubere Kleidung für das Büro, die sie aus der Reinigung abholte. Von Wedel: „Das kam auf die Jahre gesehen sehr teuer.“
Für den Pädagogen entspricht das äußere Chaos auch einem Zustand im Inneren. Die Überfrachtung der Wohnung mit Dingen steht für das permanente Gefühl der Überforderung. „Messies sammeln genau genommen weniger Dinge als Aufgaben und Projekte, von denen sie sich aber förmlich erdrückt fühlen“, so von Wedel. Viele Messies wehren sich auch gegen den Begriff der Vermüllung, denn für sie sind die angesammelten Dinge keineswegs Müll, sondern sie identifizieren sich mit ihnen. „Sind meine Dinge Müll, dann bin ich auch Müll“, gegen diese Verletzung wehren sie sich mit Abschottung ihrer Wohnung.
Der Verein verhindert pro Jahr etwa 100 Kündigungen
Doch der Zusammenhang zwischen psychischer Befindlichkeit und Wohnungschaos ist noch viel zu wenig erforscht. „Die Gesellschaftswissenschaften beschäftigen sich kaum mit diesen Problem“, sagt von Wedel. Deshalb sind auch verlässliche Zahlen, wie viele Menschen in Deutschland von der Vermüllung betroffen sind, kaum erhältlich.
Sechs bis acht Gespräche führt von Wedel am Tag. Pro Jahr verhindert der Verein in München rund 100 Wohnungskündigungen wegen Verwahrlosung – übrigens der zweithäufigste Kündigungsgrund nach Mietschulden, so der Pädagoge. Aus dieser Erfahrung heraus lässt sich in Etwa die bundesweite Zahl der Messie-Betroffenen schätzen. „Rund zwei Millionen halte ich für möglich“, sagt von Wedel. Und er sieht eine zunehmende Tendenz. Denn „der Leistungsdruck hat in den vergangenen zwanzig Jahren zugenommen“, betont er. Die Menschen wären immer mehr gezwungen, an ihrer Biografie zu „arbeiten“, tragfähige Bindungen schwänden. Auf der anderen Seite gibt es mittlerweile aber auch eine Öffentlichkeit für das Phänomen: „Vor zwanzig Jahren haben die Betroffenen noch geglaubt, sie sind die einzigen Menschen mit diesem Problem“, erklärt der Experte.
Der „H-Team“-Verein gibt auch ganz konkrete Hilfestellung bei der Entrümpelung der Wohnung. Dazu kommt es meist, wenn die Müll-Blase am Platzen ist und der Vermieter mit der Kündigung droht. Sollen zum Beispiel die Fenster renoviert werden, kann das Betreten der Wohnung nicht mehr verhindert werden. Manchmal wenden sich die Betroffenen dann selbst an den Verein, oft sind es aber auch Sozialarbeiter und Wohnungsunternehmen. Die Helfer nehmen dann Kontakt mit den Mietern auf, freilich ein Balanceakt: „Da gilt es zunächst, die grundlegende Ablehnung von Interventionen auszuhalten, die Gastrolle in der Wohnung zu bewahren und niemals die Regie übernehmen zu wollen“, so die Erfahrung der Helfer. Wichtig seien Respekt und Taktgefühl sowohl gegenüber den Personen wie auch den Dingen. Nichts soll gegenden Willen des Klienten weggeschmissen werden.
Mit der Entrümpelung der Wohnung allein ist es aber oft nicht getan. Mit dem Angebot des „Ambulanten Wohntrainings“ unterstützt der Verein deshalb auch danach bei Schwierigkeiten im Wohnalltag und bei der Haushaltsführung. Es sind im Grunde einfache Verhaltensweisen, die dann trainiert werden: Das Altpapier wegbringen zum Beispiel. Ein wichtiger Punkt ist meist auch: Wie gehe ich mit meiner Post um?
Für kranke oder behinderte Menschen werden auch hauswirtschaftliche Hilfen angeboten: Einkaufen oder Saubermachen zum Beispiel. Und schließlich leistet der Verein auch noch Schuldner- und Rechtsberatung. Dafür gibt es dann auch Zuschüsse durch Sozialbehörden. Das Messie-Telefon selbst aberwird ausschließlich durch Spenden finanziert. Bis März ist der Betrieb noch gesichert, dann aber klafft eine Finanzierungslücke. (
Rudolf Stumberger)
Foto: Wedigo von Wedel am Telefon. Seit 25 Jahren berät er Messies. (Stumberger)
Kommentare (0)
Es sind noch keine Kommentare vorhanden!