Die modische Brille muss einem schmucklosen Drahtgestell weichen. Handys und Armbanduhren werden abgelegt und auch die Raucher müssen sich umstellen – von Zigaretten auf Zigarillos. Wenn die Mitglieder des Landshuter Vereins 4th Texas Infantry in ihre Uniformen schlüpfen, begeben sie sich auf eine Zeitreise: zurück ins Amerika des Jahres 1862.
„Es geht darum, in eine andere Epoche einzutauchen“, erklärt Christian Loscher. „Dabei lässt man den Alltag komplett hinter sich.“ Der 27-jährige gelernte Elektriker ist der Vorsitzende des Vereins – oder besser gesagt der kommandierende Offizier: Dienstgrad Lieutenant.
Bis in kleinste Detail stimmen die Outfits
Er und seine 15 Mitstreiter stellen eine Südstaaten-Kompanie aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg dar. Reenactment nennt sich diese Neuinszenierung von Geschichte. Bei Treffen mit Gleichgesinnten aus ganz Europa stellen die Niederbayern Schlachten nach und leben das Lagerleben der Soldaten. „Alles soll so detailgetreu sein wie möglich“, sagt Loscher. Deshalb besitzen die Mitglieder der 4th Texas auch mehrere Uniformen. Eine Garnitur ist aus grauem, groben, sackähnlichen Material, wie bei den echten Infanteristen, die im Laufe des Krieges keinen Nachschub an gutem Stoff mehr bekamen. Die Details müssen stimmen. Auch wenn es kratzt und man gehörig schwitzt – der oberste Knopf der Uniformjacke bleibt immer geschlossen. So penibel halten sich die Hobby-Soldaten an die Kleiderordnung der Konföderierten Armee. Mit einer Ausnahme: im Sommer verzichten sie auf die langen Unterhosen.
Für die Geschichte des Amerikanischen Bürgerkrieges interessierten sich Loscher und sein Freund Stefan Leckebusch alias First Sergeant Steve Lakewood schon lange bevor sie 2006 ihren Verein gründeten. Als historisches Vorbild diente ihnen eine Infanterie-Einheit aus Austin mit dem Kampfnamen „Tom Green Rifles“. Die Wahl fiel auf eine Südstaaten-Kompanie, „weil wir Bayern ja auch Südstaatler sind“, wie Leckebusch sagt. Der 34-jährige Systemelektroniker findet, dass die Konföderierten in der Geschichtsschreibung etwas zu schlecht wegkommen, als Sklavenhalter, die für diese unmenschliche Praxis Krieg führten. „Dabei haben sie eigentlich nur ihre Heimat verteidigt.“
Im Norden Deutschlands gibt es mehr Reenactors, die Unionisten darstellen, die „Yankees“. In Bayern sind die Südstaatler klar in der Überzahl. Etwa 150 Aktive gibt es derzeit, schätzt Thomas Eisenburg. Der 47-Jährige aus Gmund am Tegernsee ist als „Major Dusty“ der ranghöchste Offizier im Freistaat. Er gehört zur 7th Georgia Cavalry, einem Verein, den er Mitte der 80er Jahre gründete – zusammen mit Freunden, die sich zuvor im Fasching als Südstaatler verkleidet hatten. Vier oder fünf bayerische Vereine zählt er derzeit zur „ernsthaften Szene“. Das sind die Gruppen, die militärische Kommandos auf Englisch beherrschen, Drills absolvieren und mit historischen Waffen hantieren können. „Eine Uniform kann jeder anziehen“, sagt Eisenburg. „Aber es kommt auf die Authentizität an.“ Über die wacht er bei den Treffen, passt auf, dass in den Zelten keine Tetra-Paks oder Plastiktüten herumstehen und niemand eine Armbanduhr trägt.
Auch die Napoleonische Zeit wird im Freistaat gerne nachgespielt
Major Dusty, im zivilen Leben Regierungshauptsekretär, gehört zum Offizierskorps des Konföderierten Bataillons Europa, dem Dachverband der Reenactors, dem auch Kompanien aus Holland, Österreich und Italien angehören. Für ihre Treffen in Deutschland mit bis zu 350 Teilnehmern mieten die Vereine Truppenübungsplätze der Bundeswehr. Dort stellen sie die Gefechte des Sezessionskriegs nach. Heuer sind die des Jahres 1862 an der Reihe, im kommenden Jahr die von 1863. „Wir wählen dafür kleinere Schlachten aus“, erklärt Eisenburg. Die seien zwar historisch nicht bedeutsam, ließen sich aber originalgetreu nachspielen. Es gibt allerdings auch „Tacticals“, eine Art Gefechtsübung, bei der der Sieger vorher nicht feststeht. Dabei kommt es darauf an, wer die bessere Taktik wählt, den Gegner einkesselt oder einfach schneller schießt – mit Schwarzpulver und ohne Patronen. Artillerie-Einheiten haben sogar schwere Kanonen dabei. Wer getroffen wird und zu Boden sinken muss, entscheidet der jeweilige Kommandant. Nach einer kurzen Pause dürfen aber auch die Toten und Verwundeten wieder mitmachen.
„Jeder muss mit einem Lächeln vom Schlachtfeld gehen“, sagt Major Dusty. Mit einem bloßen Kriegsspiel habe das aber nichts zu tun. „Militaristen sind wir aber nicht“, versichert der Landshuter Christian Loscher. Was zähle, sei die Kameradschaft. „Die Schlachten schweißen unglaublich zusammen.“ Das zeigt sich, wenn nach dem Gefecht das Lagerleben beginnt. In den Lagern haben Frauen ihren Platz, an die Front dürfen sie nicht. Es werden Lieder gesungen und das ein oder andere Bier aus dem Zinnbecher getrunken. Im Süden geht es in den Camps etwas lockerer zu, im Norden militärischer. Die Kriegsparteien feiern aber auch mal gemeinsam. Oft kennen sich die Kameraden aus den verschiedenen Kompanien nur unter ihrem Rollennamen. Am Lagerfeuer erzählen sie sich dann die Lebensgeschichten der Personen, die sie verkörpern. Viele Reenactors schreiben die Lebensläufe ihrer Figuren auf, verweben darin historisch Belegtes mit Fiktion.
Die Reenactment-Szene beschränkt sich aber nicht nur auf den Sezessionskrieg. „Es wird fast alles nachgespielt“, sagt Thomas Eisenburg. „Von der Steinzeit bis zum Golfkrieg.“ Lediglich der Erste und Zweite Weltkrieg seien in Deutschland verpönt. In Bayern ist neben dem Amerikanischen Bürgerkrieg die Napoleonische Zeit am beliebtesten. Eisenburg selbst gehört auch einem Kavallerie-Regiment von 1806 an. Mit seiner Georgia-Einheit hat er im kommenden Jahr ein großes Ziel: Gettysburg. Die legendäre Schlacht, die sich zum 150. Mal jährt, am Originalschauplatz in Pennsylvania nachgestellt. Erwartet werden dabei bis zu 40 000 Teilnehmer. Auch die Landshuter Texas-Kompanie wird dabei sein. 2015 müssen die bayerischen Südstaatler dann wieder einmal die Waffen strecken. „Die Kapitulation ist immer ein besonders emotionaler Moment“, erzählt Thomas Eisenburg. Wenn die Fahne eingeholt wird, fließen schon mal Tränen. Aber lange muss niemand trauern: 2016 geht der Krieg wieder von vorne los. (Andreas Raith)
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