Leben in Bayern

Unbeschwert geht es in der Grundschule vor allem kurz vor dem Übertritt an die weiterführenden Schulen nicht zu. (Foto: dpa/Sebastian Gollnow)

23.02.2024

Ziemlich viel Druck im Kessel

Bayerns Grundschulkinder haben Defizite beim Lesen und Rechnen – die Staatsregierung hat Abhilfe versprochen, doch so leicht ist das gar nicht

Wenn Manuel vom Druck in der Schule spricht, dann wird der sonst so fröhliche Neunjährige aus Straubing ganz ernst. Rote Flecken überziehen plötzlich seine Wangen. Manuel (alle Namen der Familie geändert) schluckt, kämpft mit den Tränen und kuschelt sich an seine Mama. Die sagt: „Manuel ist in den vergangenen Wochen sehr viel trauriger geworden.“

Im Dezember ging ein großer Aufschrei durchs Land. Die Ergebnisse der Pisa-Studie 2022 wurden veröffentlicht – und deutsche Schüler*innen schnitten dabei so schlecht ab wie noch nie. Gerade beim Lesen, Rechnen und in den Naturwissenschaften entlarvte die Studie bei vielen Kindern und Jugendlichen erhebliche Defizite. Bildung ist in Deutschland Ländersache. Bayerns Staatsregierung reagierte und kündigte an, dass künftig mehr Deutsch und Mathematik an der Grundschule unterrichtet werden soll, ohne jedoch die Wochenstunden der Kinder nach oben zu schrauben. Aber wo Abstriche machen? Bei Religion, Musik oder Englisch? Oder sollen es doch, wie es der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) fordert, einfach mehr Stunden werden?

Oft gibt es Tränen, Trauer, Bauchweh, Angst

Dass es in Bayerns Grundschulen dringenden Handlungsbedarf gibt, das zeigt auch die Geschichte von Manuels Familie. Seine Schwester Sarah (6) besucht die erste Klasse einer Straubinger Grundschule, er selbst die vierte. Beide Kinder sind gut in der Schule, sie werden kräftig gefördert von ihren Eltern. Sarah geht noch richtig gerne in die Schule, Manuel dagegen macht der Druck, der mit dem Übertritt ans Gymnasium verbunden ist, gerade schwer zu schaffen. Oft gibt es Tränen, Trauer, Bauchweh, Angst, es nicht zu schaffen.

Auch, wenn die Noten immer noch stimmen, ist der Viertklässler schwer im Stress: Von September bis April stehen zehn Proben allein im Fach Deutsch auf dem Plan. Für eine Miniprobe in HSU (Heimat- und Sachunterricht) musste Manuel zwölf Seiten auswendig lernen. „Aufs Gymnasium gehen nicht mehr die besten Schüler, sondern die, die am besten auswendig gelernt haben“, sagt seine Mutter. Also viel Dampf im Kessel in der vierten Klasse. „Jetzt ist es zu viel, früher war es zu wenig“, findet Manuel.
In Fächern wie Musik findet der Neunjährige Entspannung. Er liebt die Musikstunden – gerade, weil der Lehrer jung und engagiert ist. „Ich möchte nicht, dass Musik gekürzt wird und wir dafür mehr Deutsch und Mathe haben“, sagt er. Auch seine kleine Schwester sieht das so. Könnte sie sich an einem fünfstündigen Schultag die Fächer aussuchen, würde sie den Tag mit „drei Stunden Musik und zwei Stunden Mathe“ gestalten.

Auch ihre Mama findet nicht, dass die Stunden in Fächern wie Musik, Kunst oder Sport gekürzt werden sollen. Beim Sport würde sie sich allerdings wünschen, dass es keine Noten gibt: „Es sollte viel mehr der Spaß an der Bewegung gefördert werden.“
Die 42-Jährige geht sehr kritisch mit dem Schulsystem und auch den Lehrkräften ins Gericht. Sie wird wütend, wenn sie sich die Deutschproben ihres Sohnes ansieht: Rechtschreibfehler werden darin teilweise gar nicht korrigiert und fließen auch nicht in die Bewertung der Deutschnote für einen Aufsatz ein. „Das kann doch nicht sein, wie sollen denn die Schüler Rechtschreibung lernen, wenn nicht mal die Fehler korrigiert werden?“, fragt sie.

Zudem werde das Lesen nicht gefördert: „Seit der ersten Klasse haben die Kinder keine einzige Klassenlektüre gemeinsam gelesen.“ Auch spricht sie von völlig veralteten Arbeitsblättern, in denen noch die D-Mark statt des Euros vorkommt und die teilweise so oft kopiert wurden, dass man sie fast nicht mehr lesen kann, weil sich die Klassenlehrerin einfach nicht die Mühe mache, neues Material zu gestalten. „Eine Geschichte war so alt, dass sie nach heutigen Maßstäben sogar rassistisch war – es hieß darin, der Hund heißt Mohrle, weil er schwarz ist. In Zeiten, in denen überall die Mohren-Apotheken umbenannt werden, ist das absolut nicht mehr zeitgemäß“, findet die Mutter.

Die Mutter fordert mehr Engagement der Lehrkräfte

Sie fordert mehr Engagement von den Lehrkräften, anstatt Fächer zu streichen, und gibt den Hinweis: „Man bräuchte keine zusätzliche Stunde in Deutsch oder Mathe, wenn die Lehrer konsequent bis zu den Ferien ihre Fächer unterrichten und nicht drei Wochen vorher nur noch Filme schauen würden und es nicht ständig hitzefrei gäbe. Wir hatten letztes Jahr einmal hitzefrei bei 26 Grad!“ Dann wäre es auch kein Problem, den Stoff zu vermitteln und ausreichend zu üben, findet die Straubingerin.
Würden sie und ihr Mann (44) nicht zu Hause konsequent mit den Kindern lernen und üben, stünden diese auch nicht so gut da, davon ist die Mutter überzeugt. „Jede Familie kann das aber nicht. In manchen Familien müssen beide Elternteile berufstätig sein, wie soll dafür dann noch Zeit und Raum sein?“, fragt sie sich. Zudem sprechen nicht alle Eltern so gut Deutsch oder können den Stoff erklären.

Auch ihr Mann hat dazu eine klare Meinung: „Corona hat die Situation noch einmal verschlimmert“, sagt er. Das Problem sei nun allerdings: Es müssen alle mitgenommen werden. „Dabei wird sich an den Schlechteren orientiert. Es muss zu viel Rücksicht genommen werden auf die Leistungsschwachen, es kann keine Qualität mehr entstehen.“ Einer zusätzlichen Deutsch- und Mathestunde kann er daher nicht viel abgewinnen: „Mehr Quantität bedeutet nicht automatisch mehr Qualität. Wenn ich mich mehr mit etwas beschäftige, heißt es nicht zwangsläufig, dass es besser wird.“

Der Familienvater fordert, dass bei schwächeren Schüler*innen viel früher angefangen werden müsse mit der Förderung: mit Deutschlernen im Kindergarten, zum Beispiel. „Irgendjemand muss sich um die leistungsschwachen Schüler kümmern. Wenn es die Eltern nicht können, dann muss es der Staat und die Schule hinkriegen. Sonst können die Schüler später nicht ins Wirtschaftsleben integriert werden“, sagt er. Er führt, auch aus eigener beruflicher Erfahrung, aus: „Es kommen Leute aus der Schule, die können gar nichts. Und sie haben auch keine Disziplin, weil sie es daheim und in der Schule nicht lernen. Wie sollen sie auf dem Arbeitsmarkt bestehen?“

Braucht es mehr als 29 Stunden Unterricht?

In der vierten Klasse haben Schulkinder in Bayern drei Stunden Religionslehre oder Ethik, zwei Stunden Englisch, sechs Stunden Deutsch, fünf Stunden Mathe, vier Stunden Heimat- und Sachkundeunterricht, zwei Stunden Musikerziehung, eine Stunde Kunsterziehung, zwei Stunden Werken und textiles Gestalten, drei Stunden Sporterziehung und eine Stunde zur individuellen und gemeinsamen Förderung pro Woche auf der Stundentafel – das sind insgesamt 29 Stunden. Würde jeweils eine Stunde Deutsch und Mathe dazukommen, müsste woanders der Rotstift angesetzt werden.

Genau das will der BLLV auf keinen Fall: „Wir beteiligen uns an keinem Streichkonzert“, macht BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann deutlich. „Wir leben den ganzheitlichen Ansatz. Es kann nicht sein, dass man irgendwas opfert.“ Sie fordert dagegen individuelle Förderangebote. „Aber das geht nicht on top. Dazu braucht es zusätzliche Kräfte“, stellt sie klar.

Der Lehrkräftemangel sei eklatant, das Personal in Bayern arbeitet ihrer Ansicht nach am Anschlag. Externe Fachleute müssen aber erst qualifiziert werden, sodass die zusätzlichen Förderangebote nicht schon im neuen Schuljahr beginnen können. Nun gelte es, abzuwarten, welches Konzept Kultusministerin Anna Stolz (Freie Wähler) in den nächsten Tagen vorstellt: „Wir werden da sehr genau hinsehen, was die Ministerin da auflegt“, kündigt Fleischmann an.

Sarah und Manuel hoffen, dass nicht ihr geliebter Musikunterricht gekürzt wird, und erklären, dass es vor allem an den Lehrkräften liegt, welches Fach Spaß macht oder eben auch nicht: „Dann fällt auch das Lernen leichter, wenn der Unterricht cool ist“, sagt der Viertklässler. (Melanie Bäumel-Schachtner)
 

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