Zehntausende Menschen in Bayern arbeiten in Werkstätten für Behinderte. Ein Mindestlohn gilt für sie nicht. Die Betroffenen arbeiten für durchschnittlich 250 Euro im Monat. Inklusionsaktivisten und Teile der SPD würden das gerne ändern. Dem Bundestag liegt bereits eine Petition vor. Denn zuständig ist der Bundesgesetzgeber.
Sie frankieren Briefe, waschen Polizeiautos, reinigen Kleidung oder montieren Leuchten zusammen. Über 300 000 Menschen mit Handicap arbeiten bundesweit in Werkstätten für Behinderte – oft außer Sichtweite der Mehrheitsgesellschaft. Die Werkstätten erwirtschaften einen Umsatz von rund acht Milliarden Euro.
Im Freistaat sind laut Sozialministerium rund 36 700 Menschen in solchen Einrichtungen beschäftigt. Dort werden sie je nach Träger ganz unterschiedlich behandelt. Doch eines haben fast alle Werkstätten gemeinsam. Der überwiegende Großteil der Behinderten arbeitet dort für nicht viel mehr als ein Taschengeld. Im Freistaat betrug das durchschnittliche monatliche Arbeitsentgelt eines Werkstattbeschäftigten im Jahr 2017 laut bayerischem Sozialministerium im Durchschnitt rund 250 Euro. Zu einem Grundbetrag von 89 Euro monatlich kommt den Angaben zufolge noch einmal ein Arbeitsförderungsgeld von bis zu 52 Euro „sowie ein individueller Steigerungsbetrag“ hinzu.
Die schlechte Bezahlung ist leider legal – noch
Das von den Vereinten Nationen (Uno) finanzierte Institut für Menschenrechte, das die Umsetzung der Uno-Behindertenrechtskonvention überwacht, spricht auch aufgrund der miesen Gehälter von einer „Ausgrenzung“ der Behinderten hierzulande. Ginge es nach der Uno, dürfte es die Werkstätten ohnehin längst nicht mehr geben. Bereits 2009 hat sich die Bundesrepublik mit der Uno-Behindertenrechtskonvention verpflichtet, Menschen mit Handicap auf dem regulären Arbeitsmarkt zu integrieren. Doch Deutschland hält unbeirrt an den Werkstätten fest, und auch an den dort herrschenden Dumpinglöhnen wollte die Regierung in der Vergangenheit nicht rütteln.
Geht es nach zahlreichen prominenten SPD-Politikern wie dem stellvertretenden Parteichef Kevin Kühnert und dem Berliner Verein Sozialhelden, soll mit dem Lohndumping allerdings bald Schluss sein. In einer Petition fordern sie und mehrere Tausend Unterzeichner die Bundesregierung auf, Behinderte nicht länger wie Angestellte zweiter Klasse zu behandeln. Viele Behinderte würden nicht freiwillig in den Werkstätten arbeiten, argumentieren die Unterstützer der Petition. Sie seien nach der Schule schlicht in die Behindertenwerkstätten abgeschoben worden. „Dort verbringen sie notgedrungen ihr ganzes Arbeitsleben mit einer Aufwandsentschädigung von weniger als zwei Euro pro Stunde“, heißt es in der Petition.
Fakt ist: Der massenhafte Verstoß gegen den Mindestlohn in den Werkstätten ist völlig legal. Denn die dortigen Beschäftigten sind nach derzeitiger Gesetzeslage keine regulären Arbeitnehmer. Vielmehr sind sie aus Sicht des Bundessozialministeriums nur in einem arbeitnehmerähnlichen Verhältnis tätig. Ergo greift – so wie etwa auch bei Selbstständigen – das Mindestlohngesetz schlicht nicht. Aus Sicht vieler Werkstattbetreiber wäre ein höheres Gehalt jedoch schlicht nicht bezahlbar. Grund: Die Erträge seien zu niedrig.
Tatsächlich haben Werkstätten in der Regel eine geringere Produktivität als eine normale Firma. Zwar bekommen sie Spenden und staatliche Unterstützung – doch bundesweit beschäftigten sie laut der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen (BAG WfbM) im Jahr 2016 rund 70 000 Fachkräfte, die die Beschäftigten anleiteten. Das kostet. Und die Preise für die Produkte können nicht beliebig gesteigert werden. Schließlich müssen viele Behindertenbetriebe mit Billigkonkurrenz aus dem Ausland mithalten.
Zwar arbeiten in den Werkstätten auch viele Menschen, die mit mehr Bemühungen seitens des Staats, der Wirtschaft und der Werkstattbetreiber auch auf dem regulären Arbeitsmarkt unterkommen würden – darunter viele psychisch Kranke. Doch es gibt auch Tausende Schwerst- und Mehrfachbehinderte, die rund um die Uhr Betreuung und Anleitung brauchen. „Die Werkstätten als Einrichtungen der Eingliederungshilfe können das selbst nicht erwirtschaften“, sagt eine Sprecherin der Lebenshilfe Bayern, in deren 39 Werkstätten mit teils mehreren Standorten im Freistaat derzeit rund 18 600 Menschen mit Behinderungen arbeiten. Eine Aufgabe der Werkstätten sei es auch, Menschen mit Behinderungen so fortzubilden und zu fördern, dass sie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten können, heißt es bei der Lebenshilfe. Andere Träger argumentieren ebenfalls, dass die Vermittlung Behinderter in den regulären Arbeitsmarkt – etwa durch Integrationsfirmen – viel Geld koste.
Befürworter der Petition halten dieses Argument jedoch für vorgeschoben. „Die Gesellschaft sperrt hier einfach nur Menschen aus“, sagt ein Sprecher der Sozialhelden. Nur gerade einmal jeder Fünftausendste würde aus einer Werkstatt heraus in den Arbeitsmarkt vermittelt, argumentieren die Kritiker.
Die Bundesregierung wollte die niedrige Quote ab Januar 2018 mit dem sogenannten Budget für Arbeit zwar deutlich erhöhen. Doch Recherchen der Staatszeitung hatten im vergangenen Jahr aufgezeigt, dass mithilfe des Budgets nur einer extrem kleinen Zahl an Behinderten der Sprung in das reguläre Arbeitsleben gelingt. Da wohl auch künftig Tausende Behinderte in Werkstätten arbeiten werden, sind die dortigen Arbeitsbedingungen weiterhin von Bedeutung.
Tatsächlich sind manche Betreiber durchaus offen für einen Mindestlohn in ihren Einrichtungen. „Grundsätzlich findet die Lebenshilfe in Bayern ein höheres Arbeitsentgelt für Menschen mit Behinderungen in Werkstätten, zum Beispiel entsprechend dem gesetzlichen Mindestlohn, immer begrüßenswert“, sagt eine Sprecherin der Lebenshilfe. Die damit verbundenen höheren Ausgaben müssten jedoch über die öffentliche Hand refinanziert werden.
Offen ist, wer für die höheren Gehälter aufkäme
Doch dass der Bund die volle Differenz zum bisherigen Verdienst übernimmt, gilt als unwahrscheinlich. Dabei wäre es aus gesamtstaatlicher Sicht ohnehin lediglich ein Verschieben von einem staatlichen Topf in den anderen. Denn damit sie über die Runden kommen, erhalten die schlecht entlohnten Werkstättenmitarbeiter in der Regel Sozialhilfe. Und mitunter zahlen auch die Betreiber die Unterkunft und die Verpflegung der Beschäftigten.
Allerdings: Würde der Bund den Werkstätten aus Steuermitteln Geld zuschießen, könnte dies die Kommunen bei der Sozialhilfe entlasten. Und ein eigenes vernünftiges Salär würde Behinderten zeigen, dass sie produktive Mitglieder der Gesellschaft sind. So sehen das jedenfalls die Befürworter des Mindestlohns. „Sie arbeiten, also sollen sie auch einen Lohn und keine Almosen bekommen“, fordern die Sozialhelden.
Das CSU-geführte bayerische Sozialministerium verweist bei der Frage, ob ein Mindestlohn eingeführt werden soll, auf die dafür zuständige Bundesregierung. Ein Sprecher von Bayerns Sozialministerin Kerstin Schreyer hebt jedoch hervor, dass der Staat Behinderten in Werkstätten bereits heute die Rentenbeiträge aufstocke, sodass diese bei den Rentenanansprüchen auf etwa 80 Prozent einer Durchschnittsrente kommen.
Die Bundesregierung will bis spätestens 2023 prüfen, „wie ein transparentes, nachhaltiges und zukunftsfähiges Entgeltsystem entwickelt werden kann“. Es werde „eine umfassende Betrachtung der Entgeltstrukturen in den Werkstätten für behinderte Menschen vorzunehmen sein“, versprach das SPD-geführte Bundessozialministerium bereits im vergangenen Sommer. Dass tatsächlich ein Mindestlohn für die Werkstätten kommt, gilt jedoch als äußerst unwahrscheinlich – daher die Petition.
Bereits heute oft ordentlich bezahlt werden übrigens die nicht behinderten Angestellten in den Werkstätten. Im Einzelfall auch mal zu gut. Eine Werkstätte geriet deshalb 2018 in die Kritik. Deren damalige Chefin soll ein Jahresgehalt von 376 000 Euro kassiert haben. Selbst die Bundeskanzlerin verdient nicht so viel. Auch gönnten sich Führungskräfte einer Einrichtung in Nordrhein-Westfalen einem Medienbericht zufolge bei einer Strategietagung eine Champagner-Sause auf Kosten der Werkstatt. Eine Anfrage der Staatszeitung dazu ließ die Einrichtung unbeantwortet. Die meisten Werkstätten jedoch arbeiten tadellos.
Sollte die Petition Erfolg haben und der Bund nicht für die Mehrkosten aufkommen, könnten viele Betriebe vor dem Aus stehen. Und: Vielen Behinderten würde angesichts fehlender Inklusionsmöglichkeiten die Arbeitslosigkeit drohen.
Die SPD muss nun zeigen, wie ernst sie es mit ihrem Versprechen der Gleichstellung Behinderter meint. Leicht dürfte dies angesichts des strikten Sparversprechens des konservativen Koalitionspartners allerdings nicht werden. Die Sozialhelden geben sich derweil streitlustig: „Wir geben nicht auf!“ (Tobias Lill)
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