Lukas Krämer will dazugehören. „In einer Behindertenwerkstätte bist du doch von der Gesellschaft ausgeschlossen“, sagt der 27-Jährige. Als Kind erkrankte er an einer Gehirnhautentzündung, ist seither geistig behindert. „Ich wurde ausgebeutet“, sagt er über die Zeit in der Einrichtung, in der er etwa Wasserhähne verpackte. Trotz seiner Sprachstörung will Krämer auf dem regulären Arbeitsmarkt arbeiten – „wie auch nichtbehinderte Menschen“.
Krämer hat diverse Stärken, betreibt einen Youtube-Blog und kennt sich mit Videodrehs aus. Mittlerweile hat er den Absprung aus den Werkstätten geschafft, arbeitet als Social-Media-Experte für eine Parlamentarierin.
Doch mehr als 320 000 Menschen mit Behinderung arbeiten bundesweit in Werkstätten – also abgekoppelt vom ersten Arbeitsmarkt, meist für ein Gehalt von weniger als zwei Euro pro Stunde. Die dort Beschäftigten sind nach derzeitiger Gesetzeslage keine regulären Arbeitnehmenden. Mehrfach gab es in den vergangenen Jahren Forderungen, den Mindestlohn auch in Behindertenwerkstätten einzuführen. Die bislang erfolgreichste ist die von Lukas Krämer mit 140 000 Unterzeichnenden. Krämer verweist unter anderem auf Milliardenumsätze der Werkstätten. „Auch meine Werkstatt machte satte Gewinne.“
Teile der SPD unterstützen den Vorschlag ebenso wie die Linke. „Das ist das richtige Ziel“, sagt auch die Inklusionsexpertin der Grünen im Landtag, Kerstin Celina. Viele Werkstattbetreiber lehnen eine Lohnuntergrenze jedoch ebenso wie die Union als nicht finanzierbar ab. Die Werkstatträte Deutschland, eine Beschäftigtenvertretung, kritisieren zwar die schlechte Bezahlung der Werkstattbeschäftigten ebenfalls. Sie fürchten jedoch durch Einführung eines Mindestlohns „den Verlust wichtiger Schutzrechte“ wie die Arbeitsplatzgarantie.
Unstrittig ist: Anlässlich des Welttags der Menschen mit Behinderung am 3. Dezember gibt es keinen Grund zum Feiern. Insbesondere im Freistaat ist es nicht gut um die Inklusion bestellt. Ende 2019 lebten in Bayern rund 1,2 Millionen Menschen mit einer Schwerbehinderung – das ist fast jeder Zehnte. „Es ging lange bergauf mit der Inklusion. Doch in der Corona-Zeit rutschte das Thema Inklusion ganz nach hinten“, sagt Celina. Der Freistaat habe sich zuletzt leider weitgehend auf barrierefreies Bauen beschränkt.
Vorbild Bremen
Fakt ist: Auch in Bayern sind behinderte Menschen oft nicht in die Gesellschaft integriert – viele leben in Armut. Seit Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 können sich Menschen mit Behinderungen hierzulande eigentlich auf ein umfangreiches verbindliches Regelwerk berufen. Die Konvention beschränkt sich nicht auf ein allgemeines Diskriminierungsverbot, sondern macht den Unterzeichnerstaaten konkrete Vorgaben, wie sie ein gleichberechtigtes Miteinander umsetzen sollen: etwa durch das Recht auf inklusive Bildung.
Deutschland hat zum Erreichen der Ziele einen Nationalen Aktionsplan (NAP) aufgesetzt: Im Dezember 2020 waren laut Statusbericht des Arbeits- und Sozialministeriums von den darin geplanten 347 Maßnahmen jedoch erst 40 Prozent abgeschlossen. „In vielen politischen Bereichen ist der Paradigmenwechsel von der Politik der Fürsorge zur Politik der Inklusion und Selbstbestimmung immer noch nicht vollständig vollzogen“, konstatiert das für die Umsetzung der UN-Konvention zuständige Institut für Menschenrechte.
Bei der Integration von Frauen und Männern mit Handicap auf dem Arbeitsmarkt tut sich die Bundesrepublik besonders schwer. Während 2019 knapp 82 Prozent der 15- bis 64-Jährigen ohne Behinderung einer Erwerbstätigkeit nachgingen, waren es unter Menschen mit Behinderung nur knapp 57 Prozent. Eine wichtige Ursache: Mit 16 Prozent hatten unter den Behinderten im Alter von 25 bis 44 Jahren 2019 viermal so viele keinen allgemeinen Schulabschluss wie Nichtbehinderte. Viele heute erwachsene Behinderte besuchten eine Förderschule. Bis heute gelingt es den meisten Förderschüler*innen nicht, auch nur den einfachen Hauptschulabschluss zu erlangen. „Es ist dann schwer für sie, Arbeit außerhalb einer Werkstätte zu finden“, sagt die Grüne Celina.
Umso wichtiger ist die Inklusion an Regelschulen: Doch laut Kultusministerkonferenz besuchten bundesweit 2018 nur rund 42 Prozent aller Schulkinder mit Förderbedarf eine Regelschule. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf an Regelschulen unterscheidet sich in den verschiedenen Bundesländern und ist in Bremen mit Abstand am höchsten. Hoch ist die Exklusionsquote, also der Anteil der Schüler*innen, die eine Förderschule besuchen, dagegen etwa in Sachsen-Anhalt und Bayern. Im Freistaat stieg die Quote laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung seit 2009 sogar noch an. Hier besuchten zuletzt fast drei von vier Schulkindern mit festgestelltem Förderbedarf ein Förderzentrum. Das ist der höchste Anteil aller Bundesländer.
Nicht nur die Grünen kritisieren, dass der Freistaat trotz der bestehenden Verpflichtung kaum Geld in die Inklusion an Regelschulen investiert. „Wir wollen eine inklusive Gesellschaft“, sagt Simone Fleischmann, Chefin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV). Doch um diese erfolgreich zu gestalten, benötige es mehr Personal. An Grund- und Mittelschulen gebe es derzeit für 31 000 Kinder mit Förderbedarf gerade einmal 310 Planstellen. Sie fordert für Inklusionsklassen eine zweite Lehrkraft oder etwa eine sonderpädagogische Fachkraft, der die Lehrkraft unterstützt.
Doch davon ist Bayern weit entfernt. Die Bertelsmann Stiftung prognostiziert, dass die Exklusionsquote im Freistaat sogar noch steigen wird. Und das, obwohl die UN-Behindertenrechtskonvention vorschreibt, Sonder- und Förderschulen möglichst zu schließen.
(Tobias Lill)
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