Übergewicht, Koordinationsstörungen und Haltungsschäden: Bayerische Kinder und Jugendliche bewegen sich zu wenig – mit fatalen Auswirkungen. Doch die Forderung von Wissenschaftlern und Opposition, den Sport-Unterricht auszuweiten, stößt bei Staatsregierung und CSU-Fraktion auf taube Ohren. Jetzt aber bringt auch die Frauen-Union das Thema aufs Tapet.
Das beliebteste Vorurteil über Waldorfschulen: „Der Torben kann jetzt seinen Namen tanzen, und Jana-Rabea macht Abi in Eurythmie.“ Wer so witzelt, hat am Ende nichts verstanden, denn es ist wahrscheinlich, dass Jana-Rabea und Torben ihren Namen nicht nur früher schreiben konnten als ihre gleichaltrigen Freunde an der Regelschule, sondern auch fehlerfreier und das mit mehr Freude gelernt haben. Denn: „Je mehr Sinne beim Lernprozess beteiligt sind, desto besser sind die Ergebnisse“, sagt Sebastian Voll, Professor und Leiter der Forschungsstelle für Angewandte Sportwissenschaften an der Uni Bamberg. Er fordert daher – und mit ihm die bayerische Opposition, der Landessportbeirat (LSB), der bayerische Sportlehrerverband (BSV) und die CSU-Frauenunion – mehr Sportunterricht an den bayerischen Schulen. Aus dem Kultusministerium (KuMi) heißt es aber: Der Sportindex – die Zahl der Lehrerstunden, die für Sportunterricht vorgesehen sind – entwickle sich positiv. Eine Ausweitung sei nicht geplant.
Egal, wen man zum Thema befragt, alle fluchen über „die Kienbaum-Studie“: Sie hatte dem Berater-begeisterten Edmund Stoiber Mitte der 1990er-Jahre empfohlen, Sportlehrer durch nebenberufliche Übungsleiter zu ersetzen. Die Folge: „Bayern war mal Spitzenreiter und ist jetzt Schlusslicht im Schulsport“, sagt der sportpolitische Sprecher der Freien Wähler im Landtag, Günther Felbinger. Wer das überprüfen will, scheitert: Erhebungsmethoden hätten sich geändert, Vergleiche seien daher nicht möglich, heißt es aus dem KuMi. Der Sportindex liegt zwischen 2,91 und 2,09 Stunden pro Woche. Doch der Index hat auch einen Haken: Er ist nur ein Berechnungsinstrument. Was ausfällt, kann nicht fächerspezifisch festgestellt werden, so das KuMi. „Tarnen und Täuschen würde ich das nennen“, ätzt Harald Güller, Sport-Sprecher der SPD-Fraktion und Mitglied im LSB.
Grundsätzlich sieht die Stundentafel in Bayern dies vor: erste Klasse Grundschule zwei Stunden Sport, dann bis zur vierten drei, die weiterführenden Schulen haben mindestens zwei Basisstunden plus ein bis zwei Stunden differenzierten Sportunterricht. Ob die nun gehalten werden oder nicht: „Das ist viel, viel zu wenig“, sagt Helmut Altenberger, Ordinarius für Sportpädagogik an der Uni Augsburg. Gerade in den ersten Klassen sei dies fatal, sagt sein Bamberger Kollege Voll: „Da ist der Übergang vom Spielkind zum Sitzkind, da muss mehr Bewegung in den Unterricht.“
Mehr Sport heißt auch mehr Synapsen im Gehirn
Aber: Eine Stunde mehr Sport nur in den ersten Klassen würde – so Voll – laut KuMi 138 mehr Lehrer in Bayern bedeuten. „Das ist dem Staat zu teuer“, sagt Voll. „Mehr Bewegung ginge an jeder Schule, wenn man mit Sachverstand und Kreativität mit den Gegebenheiten umgehen würde“, findet dagegen Barbara Roth, Vorsitzende des BSV.
Aus wissenschaftlicher Sicht wäre jede Investition sinnvoll: „Es gibt eindeutige Belege dafür, dass regelmäßige körperliche Aktivität, vor allem koordinative Bewegungsaufgaben, eine Zunahme der Synapsen im Gehirn zur Folge hat“, berichtet Altenberger und fügt an: „Bis zum zwölften, dreizehnten Lebensjahr bilden sich die Nervenbahnen im Gehirn aus, damit ist es in dem Alter besonders notwendig, regelmäßig Sport zu treiben“. Vereinfacht gesagt: Mehr Sport fördert den Erfolg in MINT, Sprachen und den anderen Fächern – Gesundheit, Selbstbewusstsein, Teamfähigkeit und Sozialverhalten obendrein.
Doch so sieht der Alltag Heranwachsender heute aus: Stunde um Stunde sitzend, in der Schule, bei Hausaufgaben und Lernen oder am Computer. Freunde werden nicht mehr auf dem Bolzplatz oder im Wald, sondern im Chat getroffen. Die Folgen: Übergewicht, Haltungsschäden, Koordinationsstörungen, hat der Deutsche Kinder- und Jugendsportbericht der Krupp-Stiftung festgestellt. Interessant auch ein Blick in den bayerischen Kindergesundheitsbericht: Danach sind nur 28 Prozent der 3- bis 17-Jährigen wie empfohlen täglich eine Stunde körperlich aktiv. „Wir wissen von zunehmenden Aufmerksamkeitsproblemen, weil der Mensch – vor allem der männliche – sich bewegen muss“, sagt der Augsburger Kinderarzt Martin Lang, Vorsitzender des Verbands bayerischer Kinder- und Jugendärzte. „Wir sehen deutlich mehr Bewegungsmangel, Aufmerksamkeitsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten.“
Der FU-Antrag wurde jetzt an den Landtag überwiesen
Muss die Schule das alleine bewältigen? Ja, findet die Frauenunion: Sie begründet ihren Parteitags-Antrag für „täglich eine Stunde qualitative Sport- und Bewegungsbildung“ damit, dass eben „nur in Kindertagesstätten und Schulen alle Kinder erreicht werden“. Außerdem haben es viele Eltern offenbar noch nicht verstanden: „Fragen Sie mal an einem Elternabend, ob eine Stunde mehr Englisch oder Sport unterrichtet werden soll. Die Eltern werden alle Englisch fordern“, berichtet SPD-Mann Güller. BSV-Vorsitzende Roth findet: „Der Staat muss den Eltern halt sagen, dass Sport wichtig ist. Tut er aber nicht.“
Dabei gibt es Ansätze: „Voll in Form“ heißt das Programm an den Grundschulen, das dafür sorgen soll, dass sich die Kinder an jedem Tag, an dem kein Sportunterricht stattfindet, 20 Minuten intensiv bewegen. Eine (nicht repräsentative) Umfrage im Freundeskreis ernüchtert aber: Nur zwei von 20 Müttern/Vätern wissen von Bewegungseinheiten im Unterricht. „Das steht im Lehrplan, das muss gemacht werden“, sagt dagegen ein Sprecher des KuMi.
Die Forderungen der Opposition nach einer Stunde mehr Sport in der ersten Klasse, nach langfristig täglich einer Sportstunde und drei Basisstunden in den weiterführenden Schulen hat die CSU vor Kurzem im Bildungsausschuss abgewiesen. Aber der Landtag muss sich weiter mit dem Thema beschäftigen: Der CSU-Parteitag hat den Antrag der Frauenunion – der sich wie eine Zusammenfassung der Argumente von Opposition, LSB und Sportlehrerverband liest – an den Landtag überwiesen.
Und auch der LSB gibt der Staatsregierung zu tun: Er fordert in einem gerade verabschiedeten Papier „bewegungsförderndes Personal in der Schule und der frühkindlichen Bildung, bewegungsfreundliche Räume (drinnen und draußen)“ sowie „im Bildungsplan und Lehrplänen verankerte tägliche Bewegungszeiten“. Die Überarbeitung der Lehrpläne für 2018 böte dem KuMi und der CSU-Fraktion eine Chance. Vielleicht können dann auch bald Kathi und Irina, Franz und Ahmed ihre Namen tanzen. (Anja-Maria Meister)
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