Der Korruptionswahrnehmungsindex legt fest, wie die Bürger aus 180 Ländern die Korruption in ihrem Land einschätzen. Deutschland ist dieses Jahr um zwei Plätze auf den 12. Rang abgerutscht. Gründe sind laut Transparency-Chefin Edda Müller zu wenig Kontrollen und Sanktionen. Die Organisation kämpft seit 25 Jahren für mehr Transparenz in Wirtschaft und Behörden.
BSZ: Frau Müller, Sie waren Ministerin und Ministerialbeamtin. Ist Korruption innerhalb der öffentlichen Verwaltung hierzulande ein größeres Problem?
Edda Müller: Es gab seit den späten 1990er-Jahren eine ganze Reihe von Aktivitäten und Verbesserungen der öffentlichen Hand, um Korruption in allen Verwaltungen auf Bundes- und Landesebene zu verringern. Aber wir stellen fest, dass das Amtsgeheimnis zunehmend dem Schutz von wirtschaftlichen Akteuren dient. Die Notwendigkeit von Transparenz verschiebt sich immer mehr von der öffentlichen Hand in den Bereich der Wirtschaft.
BSZ: Wie steht Bayern da?
Müller: Wir haben bisher noch keinen systematischen Vergleich des Grades von Integrität der Bundesländer. Was die bayerische Landesregierung angeht, so scheint man sich vor zu viel Transparenz zu fürchten.
BSZ: In fast allen Bundesländern und auf Bundesebene haben Bürger ein Recht auf Akteneinsicht. Warum gibt es in Bayern kein Informationsfreiheitsgesetz?
Müller: Das ist mir schleierhaft. Der Verwaltungsaufwand ist jedenfalls kein Argument. Die Landesregierung sieht doch die Digitalisierung als eines ihrer wichtigsten Anliegen. Da kann ich nur sagen: Ihr habt durch die Technik Helfer, mit denen sich Informationen ohne großen Kopieraufwand unter die Leute bringen lassen.
BSZ: Wo liegen beim Thema Korruption die Probleme bei der öffentlichen Hand?
Müller: Es fehlt zunehmend Personal, um zum Beispiel Großprojekte qualifiziert und unabhängig planen und durchführen zu können. Die Übertragung wichtiger Aufgaben der Daseinsvorsorge an private Unternehmen ist zudem mit einer Zunahme an Intransparenz und einem Kontrollverlust durch die Bürgerinnen und Bürger und Parlamente verbunden.
BSZ: In Deutschland gibt es kein nationales Unternehmensstrafrecht. Ein Fehler?
Müller: Warum werden deutsche Unternehmen bei der Dieselaffäre im Ausland hart bestraft, während Politiker in Deutschland die gleiche Tat als „kleines Versehen“ abtun? Hier geht es nicht um Bestechlichkeit im klassischen Sinn. Aber die Menschen merken, dass die Politik der Schonung der Verantwortlichen auf ihre Kosten geht. Wir halten es daher für nötig, das Ordnungswidrigkeitenrecht zu verändern.
BSZ: In Deutschland gelten Whistleblower als Denunzianten und müssen mit Strafen rechnen. Warum?
Müller: Das ist wirklich unglaublich! Warum sollte ein Angestellter für schuldig erklärt werden, wenn er aufdeckt, dass sein Unternehmen Gesetzesverstöße begangen hat? Vor allem CDU/CSU sahen bei den Koalitionsverhandlungen aber große Hindernisse, einen besseren Schutz zu verankern. Dabei sind viele Verwaltungen nicht mehr in der Lage, die Einhaltung von gesetzlichen Vorschriften zu kontrollieren.
"Wenn bei Menschen das Gefühl vorherrscht, dass es ein Kartell zwischen Politikern und mächtigen Wirtschaftsleuten gibt, ist das für eine Demokratie höchstgefährlich"
BSZ: Ist es verwerflich, wenn Interessensgruppen Politikern bei Gesetzesentwürfen helfen?
Müller: Früher war Lobbyismus definiert als Tätigkeit von Verbänden, die für den Gesetzgeber Interessen bündeln – eine wichtige Funktion in einer Demokratie. Heute gibt es immer mehr Dienstleister wie Anwaltskanzleien, die für finanzstarke Unternehmen in Berlin und Brüssel Lobbyarbeit betreiben. Wenn bei Menschen das Gefühl vorherrscht, dass es ein Kartell zwischen Politikern und mächtigen Wirtschaftsleuten gibt, ist das für eine Demokratie höchstgefährlich.
BSZ: Wie könnte der Gesetzgeber gegensteuern?
Müller: Wir brauchen ein Interessenvertretungsgesetz. Das besteht aus einem Lobbyregister, in das sich wie auf EU-Ebene alle hauptamtlichen Lobbyisten eintragen müssen. Außerdem einen Verhaltenskodex mit Sanktionen. Und einen legislativen Fußabdruck. Damit wollen wir zeigen, welche Interessen in welches Gesetz eingeflossen sind. Das sollte in jeder Gesetzesbegründung mit angegeben und in der ersten Lesung zum Gegenstand der Debatte werden. Und es braucht einen Lobbybeauftragten, der wie der Wehrbeauftragte einmal im Jahr einen Bericht vorlegt.
BSZ: Sie haben selbst in München studiert. Wie unabhängig ist die Wissenschaft mit Blick auf die zahlreichen Stiftungsprofessuren von Industrie und Verbänden?
Müller: Studierende sollen unabhängiges Denken lernen. Wenn Hörsäle die Namen großer Firmen tragen, ist das degoutant. Wir setzen uns mit unserem Portal Hochschulwatch.de für die Offenlegung von Stiftungsprofessuren und Drittmitteln ein. Diese spielen vor allem im Gesundheitsbereich mit der Pharmaindustrie eine Rolle. Nicht jede Finanzierung ist verwerflich. Aber der Auftraggeber darf nicht entscheiden, wer sein Projekt betreut und welche Ergebnisse veröffentlicht werden dürfen.
BSZ: Was sind Ihre Schwerpunkte für die Zukunft?
Müller: Wir wollen mehr Transparenz über Lieferketten von Unternehmen, also Klarheit über sozial-ökologische Fragen. Unternehmen weigern sich immer noch zu sagen, was hinter den Werkstoren abgeht. Auch Algorithmen werden ein großes Thema. Die Automobilindustrie sammelt zum Beispiel Daten über die Fahrgewohnheiten der Menschen. Wem gehören diese Daten? Der Transparenzbegriff ist breiter zu sehen als noch vor 20 Jahren.
BSZ: In manchen Städten dürfen Müllmänner keine Geschenke mehr annehmen. Ist das nicht übertrieben?
Müller: Natürlich könnte man denken, das ist kleinkariert. Aber wenn man allmählich mit kleinen Beträgen zu Gefälligkeiten angefüttert wird, sinkt die Hemmschwelle für Korruption.
(Interview: David Lohmann)
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