Politik

Frieren für den Wahlkampf: Sahra Wagenknecht. Foto: dpa/Sven Hoppe

07.02.2025

"Kein Land steht so schlecht da wie Deutschland": Wagenknecht brilliert in München

"Wir haben einen Kontrollverlust bei der Migration", sagt BSW-Chefin Sahra Wagenknecht. Am Münchner Marienplatz bekommt sie von vielen der laut BSW 2000 Zuschauer Beifall. Teile der gewerkschaftlichen Basis verschreckte der jüngste Rechtsruck der Partei dagegen

Für Florian H. ist der Fall klar: Lautstark grölen er und seine Mitstreiter am Montagabend in Richtung der riesigen Bühne auf dem Münchner Marienplatz: „Moskau raus, Moskau raus.“ Der 19-Jährige glaubt, dass Sahra Wagenknecht, die gerade die hohen Mieten in München anprangert, in Wahrheit russische Interessen vertritt. Und das will er ebenso wie den angeblich „steigenden Einfluss von Rechtsextremen auf die deutsche Politik“ nicht hinnehmen. Die Bundesrepublik müsse weiter fest an der Seite der Ukraine stehen und Waffen liefern, fordert der Auszubildende.

Wagenknecht sieht das etwas anders: „Wer einen Krieg beginnt, der ist ein Verbrecher. Aber wer einen Krieg verlängert, wer einen Krieg weiterführt, wer Waffen in einen Krieg führt, den man beenden könnte, der ist auch ein Verbrecher“, ruft sie dem Publikum entgegen. Die Vorsitzende der Partei Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit (BSW) verurteilt den Angriff der Kreml-Truppen auf die Ukraine in ihrer Rede scharf. Sie wünscht sich ein Ende des Sterbens auf den Schlachtfeldern in der Ukraine.

"Wir haben in Deutschland einen Kontrollverlust bei der Migration"

Rund 2000 Menschen sind laut BSW trotz klirrender Kälte gekommen, um die erste Rede auf Wagenknechts Deutschland-Tour zu hören. Immer wieder schallt es von der Seite: „Lügen, Lügen, Lügen.“ Doch die Ex-Linke lässt sich von den Störerinnen und Störern nicht aus dem Konzept bringen. Alle großen Parteien bekommen ihr Fett ab – die Ampel-Regierung ganz besonders. „Kein anderes Land steht so schlecht da wie Deutschland“, ist die 55-Jährige überzeugt. Grünen und SPD wirft sie Heuchelei und Doppelmoral vor.

Wagenknecht versäumt es nicht, das Versagen der Ampel bei der Migrationspolitik anzuprangern: „Wir haben in Deutschland einen Kontrollverlust bei der Migration, das kann doch niemand bestreiten.“

Sie bekennt sich zur Marktwirtschaft, fordert jedoch mehr Eingreifen des Staates. In Bereichen wie Bildung, Wohnen müsse es „ums Allgemeinwohl gehen“, sagt sie, während im Hintergrund die Kirchenglocken läuten. Wagenknecht sieht billiges Gas aus Russland als eine wichtige Komponente, um möglichst rasch aus der Wirtschaftskrise zu kommen. Die Wirtschaftssanktionen gegen Moskau hätten „nichts mit Menschenrechten, nichts mit Moral, nichts mit Demokratie“ zu tun. Sie geißelt, dass in Deutschland so viele Rentnerinnen und Rentner von Grundsicherung leben müssten wie noch nie. Das kommt im teuren München gut an.

Daneben fordert Wagenknecht einen endlich wirksamen Mietendeckel. Gerade bei sozialen Themen und beim Versprechen auf Frieden brandet immer wieder lauter Applaus auf. Anders als bei anderen politischen Veranstaltungen sind im Publikum fast keine Parteifahnen zu sehen, auch BSW-Mitglieder sind auf dem Marienplatz eher rar. Kein Wunder: Zuletzt zählte der bayerische Landesverband nur knapp 100 Mitglieder.
Bayerns BSW-Chef Klaus Ernst betont auf Anfrage der Staatszeitung, dass sein Landesverband gerade wieder 30 Menschen aufnehme. „Würden wir alle aufnehmen, die eine Mitgliedschaft beantragt haben, hätten wir bereits locker über 1000 Mitglieder.“ Aber man wolle langsam und kontrolliert wachsen.

Eine Vielzahl an Gewerkschaftern ausgetreten

Doch in den vergangenen Tagen musste der bayerische Landesverband erst einmal einen schweren Schlag hinnehmen. Sechs teils ranghohe Mitglieder haben ihren Austritt aus dem BSW erklärt. In einem „Statement zum Austritt aus der Partei“, das der Staatszeitung vorliegt, kritisieren die Aussteiger vorwiegend die Migrationspolitik des BSW. Die Unterzeichner kritisieren dabei eine „populistische Zuspitzung, die unnötige gesellschaftliche Spaltungen fördert und Gefahr läuft, sich rhetorisch am rechten Rand zu bedienen“. Man dürfe nicht „Minderheiten gegen Minderheiten“ ausspielen.

Und sie monieren das BSW-Abstimmungsverhalten beim Zustrombegrenzungsgesetz im Bundestag in der vergangenen Woche scharf: „Dass wir hier wohl von einigen Mitgliedern der CDU und FDP beim Thema Menschlichkeit links überholt wurden, ist für uns nicht hinnehmbar.“ Denn manche Abgeordneten beider Parteien hatten entgegen der Fraktionslinie nicht für das Gesetz gestimmt.

Ausgetreten aus dem BSW ist unter anderem Josef Ilsanker, der als stellvertretender BSW-Landesvorsitzender fungierte. Er ist Stadtrat in Passau. Auch ein weiteres Mitglied des BSW-Landesvorstands verließ die Partei. Ebenfalls bitter für die Wagenknecht-Partei ist das Ausscheiden von Sinan Öztürk. Er war zwar nur einfaches BSW-Mitglied. Als stellvertretender Verdi-Landeschef war er jedoch der höchstrangige Gewerkschafter der Partei im Freistaat. Der Gewerkschaftsflügel wurde auch wegen anderer Austritte von Verdi-Funktionären empfindlich geschwächt. Klaus Ernst bestätigt die Echtheit des Briefs, spricht allerdings von „Austritten in marginaler Zahl“.

Eine Partei, „die endlich auch wieder die Interessen der Arbeiter vertritt“

Der Zeitpunkt der Austritte ist für Wagenknecht äußerst ungünstig. Für das BSW geht es ums Ganze. In Umfragen liegt die Partei im Schnitt nur bei 5 Prozent – völlig offen also, ob der Einzug in den Bundestag gelingt.
Am Montagabend am Marienplatz gibt Wagenknecht Gas. Sie gestikuliert wild umher. Und brilliert rhetorisch. „Ich habe nichts gegen künstliche Intelligenz“, ruft Wagenknecht. Aber erst einmal solle man die Bildung fördern, fügt sie an.

Dass das BSW nicht auf die Münchner Sicherheitskonferenz eingeladen wurde, sieht sie als „eine Ehre“. Sie nennt die Siko ein „Treffen der Sofa-Krieger“. Bei der eigenen Klientel kommt das gut an. Franz L., Betriebsrat und BSW-Mitglied aus Niederbayern, erklärt: Das BSW sei eine Partei, „die endlich auch wieder die Interessen der Arbeiter vertritt“. Ihm gefiel die Wagenknecht-Rede gut, sagt er.

Auch andere Gäste hatten eine lange Fahrt. Der 69-jährige Anton B. ist extra aus der Region Dorfen nach München gefahren. Die Grünen seien für ihn „nicht mehr wählbar“, sagt der Biobauer. Wagenknecht habe eine „sehr gute Rede gehalten“. Insbesondere die Forderungen nach Frieden mit Russland und mehr sozialer Gerechtigkeit kommen bei ihm gut an. Ob er das BSW auch wählen wird? „Das muss ich mir noch überlegen.“
Klar ist: Wagenknecht muss noch viel Überzeugungsarbeit leisten. Leicht werden die kommenden Wochen für sie jedenfalls nicht. (Tobias Lill)
 

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