Politik

Viele kranke und ältere Menschen sehen ohne fachkundige Hilfe keine Möglichkeit, ihren Tod auf eine sichere und für sie erträgliche Art und Weise herbeizuführen. (Foto: dpa/Tom Weller)

09.09.2024

"Bisher kam es nicht zu dem befürchteten Dammbruch"

Rechtswissenschaftler Helmut Frister über Suizidassistenz, die aktuelle Rechtsprechung und die Frage, warum sich die Politik bisher nicht auf ein Sterbehilfegesetz einigen konnte

2020 erklärte das Bundesverfassungsgericht das Verbot, die Selbsttötung "geschäftsmäßig zu fördern", für verfassungswidrig und hob ein entsprechendes Strafgesetz auf. Der Gesetzgeber wollte darauf die Sterbehilfe auf eine neue Grundlage stellen. Zwei Initiativen für eine Neuregelung scheiterten 2023 jedoch im Bundestag. Helmut Frister ist Professor an der Universität Düsseldorf und begleitete das Thema als Mitglied des Deutschen Ethikrats. 

BSZ: Herr Frister, Suizidassistenz ist seit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020 in Deutschland erlaubt. Warum spricht die Politik weiterhin von einer „rechtlichen Grauzone“.
Helmut Frister: Suizidassistenz ist zulässig, weil sie nicht mehr verboten ist – das hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich festgestellt. Eine Grauzone existiert insofern nicht. Voraussetzung für eine zulässige Suizidassistenz ist allerdings – und das ist der Knackpunkt – eine freiverantwortliche Suizidentscheidung. Das heißt, jemand muss sich in einer selbstbestimmten und überlegten Art und Weise für den Suizid entschieden haben. Sonst ist die Suizidassistenz nicht erlaubt und der Ärztin oder dem Arzt wird für eine Fremdtötung bestraft.

BSZ: Dieses Jahr wurden vom Landgericht Berlin und Essen zwei Suizidhelfer zu jeweils drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Warum?
Frister: Dabei ging es um die freiverantwortliche Entscheidung. Beide Patienten hatten psychische Erkrankungen. Allerdings sind die Urteile noch nicht rechtskräftig und werden vom Bundesgerichtshof noch überprüft. Ein Gesetz könnte helfen, die Kriterien für die Freiverantwortlichkeit besser zu regeln. Es könnte z.B. eine vorherige Beratung, in Zweifelsfällen eine psychiatrische Begutachtung und bestimmte Wartefristen vorsehen. Aber auch aktuell gilt: Jeder, der Suizidhilfe leistet, muss sich vergewissern, dass eine freiverantwortliche Entscheidung des Suizidenten vorliegt. Kommt er dieser Prüfungspflicht nicht nach, läuft er Gefahr, wegen einer Fremdtötung strafrechtlich belangt zu werden.

BSZ: Warum helfen Menschen anderen Menschen beim Suizid, obwohl sie sich damit rechtlich aufs Glatteis begeben?
Frister: Das ist eine Form von Altruismus. Sie wollen Menschen, die in Not sind und keinen anderen Weg mehr sehen, einen Ausweg ermöglichen. So glatt ist das Eis aber gar nicht. Der Knackpunkt sind in der Praxis die psychischen Erkrankungen. Zwar sind nicht alle psychisch kranken Menschen nicht selbstbestimmungsfähig. Aber eine psychische Erkrankung kann die Selbstbestimmungsfähigkeit ausschließen. Deswegen sind Suizidhilfeorganisationen bei diesen Fällen auch sehr zurückhaltend. Die Klientel dieser Organisationen ist dementsprechend eine andere als die der Menschen, die sich ohne Suizidhilfe selbst töten. Während Suizidhilfeorganisationen allenfalls ausnahmsweise psychisch erkrankten Menschen bei einem Suizid helfen, ist von den ca. 10.000 Suizidenten pro Jahr ein großer Teil psychisch erkrankt.

BSZ: Warum nehmen Menschen überhaupt Suizidhilfe in Anspruch, anstatt sich selbst zu töten?
Frister: Weil sie ohne fachkundige Hilfe keine Möglichkeit sehen, den Tod auf eine sichere und für sie erträgliche Art und Weise herbeizuführen. Fast 50 Prozent der 10.000 Suizide geschehen durch Erhängen. Das ist sicherlich kein „schöner Tod“– wenn es einen solchen überhaupt gibt. Andere werfen sich vor die Bahn oder nehmen eine Überdosis Medikamente. Bei letzterem ist das Problem ist, dass Laien ohne fachkundige Hilfe nicht wissen, ob der Freitod gelingt oder mit welchen Schäden sie überleben.

"Die beiden Gesetzentwürfe im Bundestag gingen fundamental auseinander"

BSZ: Wie sieht die klassische Kundschaft von Sterbehilfeorganisationen aus?
Frister: Eine offizielle Statistik existiert nicht. Viele sind aber wohl schwer erkrankt und möchten sich das Endstadium ersparen. Dann gibt es die Gruppe der sogenannten Lebenssatten und ältere Menschen, die zwar keine tödlichen, aber eine Vielzahl von kleineren Gebrechen haben. Beiden Gruppen erscheint das eigene Leben nicht mehr lebenswert. Auch Einsamkeit spielt eine große Rolle. Beim Blick auf die Altersverteilung der Suizidenten allgemein fällt auf, dass ältere Menschen deutlich überrepräsentiert sind – viele sind sogar 90 Jahre oder älter. Die oft zitierten Paare, die gemeinsam sterben wollen, sind Einzelfälle.

BSZ: Was waren die Konfliktlinien im Bundestag beim Versuch, die Sterbehilfe auf eine neue gesetzliche Grundlage zu stellen?
Frister: Die beiden Entwürfe gingen fundamental auseinander. Der eine von konservativer Seite wollte das Sterbehilfeverbot beibehalten und nur bei einem psychiatrischen Gutachten Ausnahmen zulassen. Der andere und liberalere Entwurf sah zwar ebenfalls bestimmte Voraussetzungen, aber im Regelfall kein psychiatrisches Gutachten vor. Die Befürworter wollten Menschen, die nur noch ein halbes Jahr zu leben haben, nicht zweimal zum Psychiater schicken. Gescheitert sind beide Entwürfe an einer kleinen Gruppe von Abgeordneten, die aus unterschiedlichen Motiven keine Regulierung der Suizidhilfe wollte.

BSZ: Viele ältere Menschen wissen nichts von dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Müsste man dafür zum Beispiel in Altenheimen mehr Werbung machen?
Frister: Werbung sicherlich nicht, aber auf Nachfrage sollte über die rechtliche Möglichkeit zutreffend informiert werden. Dass dadurch die Zahl der Suizide steigen könnte, halte ich für kein Gegenargument. Als die geschäftsmäßige Suizidassistenz noch verboten war, gab es kein Angebot der Suizidassistenz. Natürlich führt die Schaffung eines solchen Angebots dazu, dass es von einigen auch wahrgenommen wird und sich damit die Zahl der Suizide erhöht. Es kam aber bisher nicht zu dem befürchteten Dammbruch. 2023 ist die Zahl der Suizide insgesamt im Vergleich zum Vorjahr zwar um drei Prozent gestiegen, lag damit aber immer noch unter dem Durchschnitt der letzten zehn Jahre. (Interview: David Lohmann)

Wir berichten nur in Ausnahmefällen über das Thema Suizid, um keinen Anreiz für Nachahmung zu geben. Wenn Sie selbst depressiv sind, wenn Sie Suizid-Gedanken haben, dann kontaktieren Sie bitte die Telefonseelsorge im Internet oder über die kostenlosen Hotlines 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222 oder 116 123.

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