Bisher hat man ohne größere Mühe täglich acht Stunden gearbeitet. Am Wochenende traf man sich mit Freunden. Vielleicht engagierte man sich in einem Verein. Von einem Tag auf den anderen ist all das nicht mehr möglich - – weil man nicht mehr sprechen kann. „Aphasie“ nennt sich dieses häufig durch einen Schlaganfall bedingte Leiden. Der Sprachverlust geht mit schweren seelischen Qualen und oft mit Depressionen einher. Psychotherapie wäre für die Betroffenen dringend notwendig. Doch es gibt sie kaum.
Wie das ist, nach einer Aphasie noch mal von vorne anfangen zu müssen, noch einmal das Sprechen, Lesen und Schreiben zu erlernen, darauf macht das Zentrum für Aphasie und Schlaganfall Unterfranken (AZU) seit Jahren aufmerksam. Aufklärung tut not, denn Vorurteile und Diskriminierungen begegnen den Betroffenen auf Schritt und Tritt. Gleichzeitig setzt sich die in Würzburg etablierte Einrichtung dafür ein, dass Aphasiker*innen therapeutische Hilfe erhalten. „Wir selbst bieten kostenlose psychologische Beratung an, das findet man deutschlandweit nirgends“, sagt AZU-Psychologin Beate Hechtle-Frieß.
Dass die ersten Monate nach dem Sprachverlust oft eine einzige Qual sind, davon weiß Marina Fraas aus dem oberfränkischen Helmbrechts zu berichten. Die 32-Jährige erlitt mit 20 Jahren einen schweren Schlaganfall. Sie ist eine von schätzungsweise 20 000 Menschen in Bayern, die im Augenblick mit einer Aphasie leben. „Ich habe mich oft diskriminiert gefühlt in der Gesellschaft“, sagt die junge Frau, die ihre Sprache zu einem großen Teil zurückerwarb, trotz ihres Handicaps Psychologie studierte und sich derzeit zur Psychotherapeutin weiterbildet. Sie selbst habe von Psychotherapie immens profitiert. Dadurch konnte sie sich irgendwann selbstbewusst gegen Diskriminierung wehren.
Überall wird man abgewiesen, die Wartelisten für Betroffene sind lang
Viele Schlaganfallopfer haben dieses Glück nicht, heißt es doch inzwischen, von Pontius zu Pilatus zu laufen, bis sich endlich jemand findet, der therapeutisch hilft. „In der Regel wird man überall erst mal auf eine Warteliste gesetzt, was im Falle einer Depression allerdings sehr schwierig ist“, sagt Beate Hechtle-Frieß. Manchmal gelingt es mit ein bisschen verbalem Drängeln und Überredungskunst, einen Therapieplatz zu ergattern: „Doch wie sollen das aphasische Menschen schaffen?“ Hinzu kommt, dass die meisten Therapeut*innen unsicher im Umgang mit Aphasikern sind.
Marina Fraas’ Qualifizierung zur Psychotherapeutin bedeutet vor diesem Hintergrund einen Lichtblick. Das findet nicht nur Beate Hechtle-Frieß. Sondern auch Benjamin Stahl. Der Berliner Professor für klinische Psychologie therapiert Menschen mit Aphasie, außerdem forscht er zu der Thematik. Im Herbst will er in Berlin die deutschlandweit erste Forschungsambulanz für Psychotherapie bei Aphasie eröffnen. Zusammen mit Marina Fraas und anderen Fachleute aus der Aphasie-Szene stellte er sein Projekt Ende März beim Online-Kongress Aphasie 4.3 des AZU vor. Stahl will in den kommenden Jahren herausfinden, ob und wie Psychotherapie bei Aphasie helfen kann.
Mit seiner Idee für ein solches Zentrum ist Benjamin Stahl ein Revolutionär auf dem Gebiet der Psychotherapie mit Blick auf Menschen nach Sprachverlust. Denn bisher gibt es so gut wie überhaupt keine Forschung auf diesem Feld. Und das, obwohl deutschlandweit circa 200 000 Menschen von Aphasie betroffen sind.
Das Zentrum für Aphasie und Schlaganfall Unterfranken wird Benjamin Stahl unterstützen, verspricht Beate Hechtle-Frieß: „Wir finden großartig, was er macht.“ Die Unterstützung besteht zum Beispiel darin, dass Aphasikerinnen und Aphasiker aus Unterfranken mit Therapiewunsch an das Forschungszentrum vermittelt werden. Benjamin Stahl selbst hatte unlängst erst eine Patientin mit schwerer Aphasie therapiert. „Sprachliche Schwierigkeiten konnten wir durch Bilder umgehen“, berichtete er beim Aphasie-Kongress. Auf einem Gemälde der Patientin waren eine Waldlandschaft und Häuser zu sehen. „Der Wald symbolisierte ihre Sehnsucht nach Geborgenheit“, fand der Psychologe heraus. Die Häuser standen für Langeweile und Gefangensein: „Draußen findet ein spannendes Leben statt, aber durch die Aphasie hängt man fest und kommt nicht weiter.“
Wie die meisten anderen Betroffenen konnte auch diese Patientin ihre Vision für ihr Leben aufgrund des Sprachverlusts nicht mehr verwirklichen. „Nach einem Schlaganfall schließen sich viele Türen“, so Stahl. Lebenspläne würden zerschlagen, seelische Wachstumsprozesse unterbrochen. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, in welch tiefe Depressionen Menschen dadurch geraten können. Depressionen wiederum gehören laut dem Professor zu „den tödlichsten Erkrankungen im psychischen Bereich“. Führen sie doch nicht selten in den Suizid. In Kooperation mit dem AZU will Stahl verhindern, dass sich Menschen wegen einer Aphasie umbringen. (Pat Christ)
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