BSZ: Herr Stetter, ab Freitag beschäftigt sich die Münchner Sicherheitskonferenz auch mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Welches Ergebnis erwarten Sie?
Stephan Stetter : Das Wichtigste ist, dass es eine große Einigkeit in den Nato-Staaten und der EU im politischen Umgang mit dieser großen sicherheitspolitischen Herausforderung gibt, die der Krieg Russlands gegen die Ukraine bedeutet. Wichtig wäre, dass das Ergebnis auf andere Staaten übertragen wird. Ich denke an wichtige Mächte wie Indien oder die Staaten Lateinamerikas. Und dass ein Dialog mit China geführt wird.
BSZ: An der Sicherheitskonferenz nimmt auch Chinas Außenpolitiker Wang Yi teil. Was kann China in dem Konflikt tun?
Stetter: China hat ja schon ein bisschen was getan. Denken Sie nur an die vielfältigen Nuklear- und Apokalypse-Drohungen, die immer wieder aus Russland lanciert worden sind. Das hat deutlich abgenommen. Das hat sicherlich damit zu tun, dass von China entsprechend Druck kommt.
BSZ: Im Umfeld des Hotels Bayerischer Hof werden sehr viele Demonstrierende erwartet – die für den Frieden protestieren. Ist das aus Ihrer Sicht nur naiv oder gar russische Propaganda?
Stetter: Die Propaganda ist im Einzelfall nicht auszuschließen. Aber ich glaube, dass es bei vielen Menschen besonders in Deutschland, wie Meinungsumfragen zeigen, Ängste und Sorgen gibt. Und die sind natürlich real. Und der Wunsch nach Frieden ist auch real. Dieser Krieg kann einem natürlich nicht gefallen. Es ist ein schrecklicher Krieg mit unglaublichen Verbrechen, die dort begangen werden. Aber die Verantwortung liegt bei Russland. Die Ukraine verteidigt sich. Und Deutschland und andere helfen der Ukraine in diesem ganz grundlegenden Recht auf Verteidigung.
BSZ: Das sehen einige kritisch.
Stetter: Dass es Menschen gibt, die sagen, ich habe eine pazifistische Grundhaltung, das kann ich akzeptieren. Aber es ist nicht meine Haltung. Und ich glaube auch nicht, dass sie uns politisch weiterhilft. Man darf auch nicht übersehen, dass beim Wunsch derjenigen, die die Ukraine in ihrem Selbstverteidigungsrecht unterstützen wollen, auch der Wunsch nach Frieden, einem gerechten Frieden, dahintersteht. Das sind keine Bellizisten. Dieser Friede ist aber natürlich nicht der Frieden, den Russland sucht. Was Russland sucht, ist ein Siegfrieden, eine totale Kapitulation der Ukraine.
BSZ: 69 Prominente, darunter Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer, haben jetzt das „Manifest für den Frieden“ veröffentlicht, das den Kanzler dazu auffordert, sich für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen einzusetzen. Hunderttausende unterstützen die Petition.
Stetter: Der Philosoph Jürgen Habermas hat jetzt auch „Ein Plädoyer für Verhandlungen“ in der Süddeutschen Zeitung geschrieben, das ich zwar ebenfalls kritisch sehe, weil ich es etwas naiv und unpolitisch finde. Aber es sind Argumente, mit denen ich mich gerne auseinandersetze. Weil ich eine tatsächliche Sorge dahinter sehe.
BSZ: Welche?
Stetter: Dass wir uns auf einem Eskalationsweg befinden. Diese Sicht teile ich aber nicht zwangsläufig. Wir befinden uns in einer Art Kaltem Krieg mit Russland. Diese Realität müssen wir erst mal anerkennen. Das fehlt mir auch bei Habermas. Was ich ebenfalls bei Habermas’ Gedanken vermisse: Was bedeutet es eigentlich für die Ukraine oder andere Staaten wie Moldawien oder die Baltischen Staaten, wenn Russland irgendwie gewinnt? Aber ich habe zumindest nicht das Gefühl, das sich Habermas politisch instrumentalisieren lässt.
BSZ: Das werfen Sie stattdessen den Initiator*innen des Manifests vor.
Stetter: Ja. Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer instrumentalisieren auch eine ganze Zahl von Leuten, die da auch unterschrieben haben. Es ist ein skandalöses Schreiben. Es findet fast eine Täter-Opfer-Umkehr statt. Aus der Ukraine wird ein Täter gemacht, es wird zwischen den Zeilen eine Kapitulation der Ukraine eingefordert. Wo das hinführen soll in der internationalen Ordnung, in der Welt, in Europa, das sagen diese zwei Hauptautorinnen nicht.
BSZ: Aber die Forderung nach Friedensverhandlungen ist doch legitim.
Stetter: Durchaus. Internationale Politik bedeutet, dass man permanent über Fragen verhandelt. Aber Verhandeln muss ein Prozess sein, der am Ende auch zu einem akzeptablen und legitimen Ergebnis führt. In dem Schreiben, das voller Unterstellungen ist, sehe ich auch die Unterstellung, dass es keinen Wunsch nach Verhandlungen gibt, dass wir in einer kriegsgeilen Öffentlichkeit leben. Dass Leute, die sagen, die Ukraine muss unterstützt werden, begeistert vom Krieg seien. Das finde ich wirklich sehr dreist. Wenn jemand auf die brutalste Art und Weise angegriffen wird, gehört es sich, dass man ihn unterstützt.
BSZ: Und was ist nun mit dem Wunsch nach Verhandlungen?
Stetter: Natürlich müssen Verhandlungen stattfinden. Natürlich muss ein Weg aus der kriegerischen Auseinandersetzung gefunden werden. Aber ich befürchte, der lässt sich eben nur aus einer Position der Stärke heraus finden. Denn man sollte sich schon die Frage stellen, was Russland sonst noch alles machen würde, wenn es diesen Krieg dann doch in irgendeiner Form gewinnen würde. Das ist eine Welt, ein Europa, in dem wir lieber nicht leben wollen.
BSZ: In Deutschland gibt es außer der selbst ernannten „einzigen Friedenspartei“ AfD keine Partei, die sich für raschen Frieden einsetzt. Sogar die Grünen, die aus der Friedensbewegung entstanden, fordern vom Kanzler immer neue Waffenlieferungen. Hat der deutsche Pazifismus ausgedient?
Stetter: Nein. Ich sehe hier keinen fundamentalen Wandel. Das Grundgesetz sieht Frieden und Freiheit vor, und zwar nicht nur für Deutschland, sondern auch für Europa, die internationale Ordnung. Die Grünen waren auch immer eine Partei, in der es einerseits einen starken Pazifismus gab, aber auch eine Unterstützung von internationalen Befreiungsbewegungen. Dass dieser Krieg eskaliert, dass es zu einer direkten militärischen Auseinandersetzung zwischen Russland und der Nato kommt, das ist unbedingt zu vermeiden. Das sehe ich auch so. Aber – um dieses Ziel zu erreichen – zu sagen, man tritt jetzt in Verhandlungen ein und Russland kommt ganz gut aus der Sache heraus, das kann nicht der Weg sein.
BSZ: Müsste die Bundesregierung nicht Ziele formulieren, wie der Krieg in der Nachbarschaft beendet werden kann?
Stetter: Darauf bezieht sich auch Habermas: Manche in Europa, etwa Frankreichs Präsident Macron, sagen, dass die Ukraine gewinnen muss, während der Bundeskanzler defensiver argumentiert, dass Russland den Krieg nicht gewinnen darf. Er müsste tatsächlich deutlicher definieren, was er eigentlich damit meint. Es geht nicht darum, ein unverrückbares Ziel zu formulieren, da muss man zum jetzigen Zeitpunkt auch realistisch sein. Und er muss auch nicht alle Geheimnisse preisgeben. Aber es wäre tatsächlich wichtig zu erklären: Was verbinden wir eigentlich mit der Formulierung? Was sind grundsätzliche Parameter der Außenpolitik, die wir setzen möchten? Worauf basiert die? Mehr Kommunikation wäre tatsächlich wichtig, aber das hat ja schon die Amtsvorgängerin von Olaf Scholz nicht besonders gut gemacht.
BSZ: Wann ist der Zeitpunkt für Verhandlungen gekommen?
Stetter: Die laufen ja schon, etwa beim Gefangenenaustausch. Ich würde auch vermuten, dass die USA in Kontakt mit China stehen. Und wenn der Bundeskanzler oder der französische Staatspräsident mit Putin Kontakt haben, dann zählt das auch dazu. Es ist nur leider gerade illusorisch zu sagen: Wir machen jetzt eine Friedenskonferenz. Die politischen Voraussetzungen dafür sind nicht gegeben. Es muss in Moskau klar sein: Die Ukraine kann nicht erledigt werden. Das Bittere ist, dass dieser Krieg über einen längeren, vielleicht auch einen langen Zeitraum weitergehen wird. Und das muss politisch an die Öffentlichkeit kommuniziert werden.
BSZ: Aber was könnte denn aus Ihrer Sicht ein realistisches Ergebnis sein? Die Ukraine tritt 10 Prozent ihres Gebiets an Russland ab?
Stetter: Derzeit gibt es keine Bereitschaft für solche Verhandlungen. Ich nehme diese Forderungen auch wahr. Das wäre dann nicht der absolute Sieg Russlands, dass man Kiew besiegt hätte. Aber es wäre doch ein Erfolg für Russland, das für sich in Anspruch nehmen könnte, einige der wichtigen Kriegsziele doch erreicht zu haben. So kann das also nicht gehen – auch wenn die Konfliktparteien mal in irgendeiner Form verhandeln müssen.
BSZ: Wie groß ist denn eigentlich der Einfluss der Konflikt- und Friedensforschung auf die tatsächliche Lösung von Konflikten?
Stetter: Die Aufgabe von Wissenschaft ist vor allem, die Dynamiken, die passieren, zu verstehen und gut erklären zu können. Lösungen präsentieren, das können wir leider nicht. Aber wir können auf zahlreiche Sachen hinweisen: Wie funktioniert die internationale Politik? Was ist der Stellenwert des internationalen Rechts? Das kommt manchmal ein bisschen zu kurz. Wir liefern auch eine realistische Einschätzung, wie sich Staaten – oder imperial-nationalistische Mächte wie Russland – in solchen Konflikten verhalten. Nicht alles eskaliert gleich. Das heißt aber nicht, dass wir alles vorhersehen können.
BSZ: Und wie war das beim Angriff auf die Ukraine?
Stetter: Ich habe Putins Aufsatz zur angeblichen historischen Einheit Russlands, Belarus und der Ukraine, den er ein gutes Dreivierteljahr vor dem Krieg veröffentlicht hat, damals zusammen mit meinen Student*innen behandelt. In diesem obskuren Text sagt Putin, dass es eigentlich keine separate Ukraine und kein separates Weißrussland gibt. Dass es eine historische Einheit gibt. Da hatten wir schon gesagt, dass uns nichts Gutes bevorsteht. Man hätte mit einem Rotstift alle Fehler markieren können – der Text wäre übervoll mit roten Strichen gewesen. Wegen Verzerrungen, falscher Darstellungen, unlogischer Schlüsse. Da war schon zu erkennen: Es hat nicht nur auf der Krim eine illegale Besetzung ukrainischen Territoriums stattgefunden, es verhärten sich auch die Ideologien in Russland.
BSZ: Sie ahnten also schon, dass ein Angriff bevorsteht?
Stetter: Nein, den Krieg vorhergesagt haben wir nicht. Die Hoffnung war, dass die internationale Ordnung so ausgerichtet ist, dass Russland dieses Risiko eines Krieges nicht eingehen würde. Dies war falsch. Aber das Risiko für Russland, damit einen folgenschweren Fehler begangen zu haben, ist nach wie vor sehr groß.
(Interview: Thorsten Stark)
(Fotorechte: Bundeswehr-Uni München)
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