Es ist faszinierend, zu sehen, wie die Finger über das Papier gleiten. Wie der Mensch, der blind ist, liest, was er gerade ertastet. Seit genau 200 Jahren haben blinde Menschen eine eigene Schrift. Louis Braille entwickelte sie 1825. „Sie ist wirklich etwas ganz Wertvolles“, sagt der blinde Musiktherapeut Markus Rummel aus Würzburg anlässlich des Welt-Braille-Tages am 4. Januar. Auch er hat Blindenschrift erlernt. Allerdings erst mit 25 Jahren.
Zumindest dem Namen nach kennen viele Menschen Louis Braille. Wenngleich sie wahrscheinlich noch niemals tastend mit dem Finger über die von ihm entwickelte Schrift gefahren sind. Louis Braille stammte aus Frankreich. Bis er drei Jahre alt war, konnte er ganz normal sehen. Durch eine Verletzung wurde er blind. Schon in jungen Jahren machte er sich daran, eine Blindenschrift zu entwickeln. Mit 16 hatte er die bis heute verwendete Schrift aus sechs Punkten, die in zwei Reihen zu je drei Punkten nebeneinander angeordnet sind, fertig, Sämtliche Buchstaben und Satzzeichen, alle Zahlen, mathematischen Zeichen und Musiknoten lassen sich mit ihr darstellen.
Bevor es Computer und Internet gab, wiesen Blinde regelmäßig darauf hin, dass sie unter einem Informationsdefizit leiden, denn stets erschienen nur wenige Texte in Brailleschrift. So war das auch noch, als Markus Rummel 1980 im Würzburger Berufsförderungswerk als Mensch, der zu erblinden begann, im Einzelunterricht versuchte, sich die Brailleschrift anzueignen. „Mein eigentliches Ziel war es, die Notenschrift für Blinde zu lernen, dazu hatte ich zunächst die Blindenschrift gebraucht“, erzählt der 69-Jährige. Heute benutzt er ausschließlich moderne Technik, um zu lesen und zu schreiben.
Markus Rummel, der sich im städtischen Behindertenbeirat für Menschen mit Behinderung aus Würzburg engagiert, verwendet im Alltag einen sogenannten Milestone. Dort spricht er alles hinein, was er nicht vergessen darf. Das Gerät ist aus seinem Leben nicht mehr wegzudenken.
Einkaufszettel, die man aufsprechen und hören kann
Dank des Milestones weiß Markus Rummel auch, was er in den Einkaufswagen packen soll: Im Laden hört er sich den diktierten Einkaufszettel über das Gerät an. Trotz technischer Hilfsmittel bleiben für blinde Menschen drängende Probleme.
Zum Beispiel im Verkehr: Steht Markus Rummel an einer Haltestelle, weiß er nicht, welche Omnibuslinie gerade vorfährt. Im Augenblick kämpft er darum, dass es ein akustisches Signal dafür gibt. Entweder beim Heranfahren des Busses an die Haltestelle. Oder auf dem Handy. Noch tue sich allerdings nichts, um diesen Wunsch, der von vielen blinden Menschen aus Würzburg geteilt wird, zu erfüllen.
Dank modernder Technik steht Blinden nach Ansicht von Markus Rummel nahezu das gleiche Informationsangebot zur Verfügung wie Sehenden. Seine Haltung ist allerdings typisch für Menschen, die nicht von Geburt an blind sind. Letztere haben zur Blindenschrift meist eine andere Einstellung. „Wenn ich wirklich wissen möchte, um was es geht, brauche ich den Text unter meinen Fingern“, erklärt die von Geburt an blinde Judith Faltl, Landesvorsitzende des Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbunds. Für Blinde sei es so genussvoll, via Blindenschrift auf Papier zu lesen, wie es für Sehende genussvoll sei, ein „echtes“ Buch in die Hand zu nehmen, betont sie.
Natürlich nutzt auch Judith Faltl zur Informationsbeschaffung das Internet. Interessante Texte lässt sie sich wahlweise über die Sprachausgabe des Computers vorlesen oder sie liest sie über die Braillezeile. Letzteres tun immer weniger blinde Menschen. Judith Faltl schätzt, dass höchstens noch 30 Prozent die Brailleschrift nutzen. In dem von ihr seit Kurzem geleiteten Berufsförderungswerk (BFW) in Würzburg erlernen zwischen 40 und 50 neu erblindete Menschen aus dem gesamten Bundesgebiet jedes Jahr das tastende Lesen der Blindenschrift. Leicht sei das nicht, so die BFW-Geschäftsführerin. Nach einem Jahr erreiche man meist allenfalls Grundschulniveau.
Bis Ende Februar 2024 lief eine europaweite Umfrage der Europäischen Blindenunion (EBU) zur Nutzung der Braillezeile auf Computern und Smartphones. Mit den Ergebnissen will die EBU an die Hersteller von Braillezeilen und Screenreadern herantreten, um den Zugang zur elektronischen Brailleschrift zu verbessern. „Auf elektronischen Geräten wird Braille nach wie vor sehr häufig verwendet“, sagt Aleksander Pavkovic, der beim Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund für blindheitsspezifische IT-Beratung zuständig ist. Für ihn ist Braille definitiv „kein Auslaufmodell der Kommunikation“.
Auch am Beispiel der 1920 gegründeten Brailleliga aus Brüssel, die einen Informationsdienst für technische Anpassungen aufbaute, wird deutlich, dass die Brailleschrift nicht ausgedient hat. Nach eigenen Angaben unterstützt die Brailleliga 12 400 Blinde und Sehbehinderte aus Deutschlands Nachbarland Belgien. Auch setzt sie sich für die Rechte blinder Menschen ein. Laut Aleksander Pavkovic gibt es hier noch viel zu tun: „Es fehlt weiterhin an barrierefreien Texten.“ Ein großes Problem sei, dass Grafiken und Tabellen in Fach- und Sachbüchern häufig nicht barrierefrei umgesetzt sind.
Nicht immer kann man online gehen. Es ergibt für blinde Menschen deshalb Sinn, Blindenschrift lesen zu können. Auch, um nicht vom Digitalen abhängig zu sein. Der Blinden- und Sehbehindertenbund bietet deshalb regelmäßig Brailleschrift-Kurse und -Seminare an. Blinde Kinder lernen die Blindenschrift an Förderschulen. Besuchen sie, was im Zeitalter der Inklusion oft der Fall ist, Regelschulen, werden sie dort von mobilen sonderpädagogischen Lehrkräften gefördert. Hier, so Aleksander Pavkovic, mangelt es jedoch im Augenblick sowohl an Geld als auch an Personal.
(Pat Christ)
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