Heute, am 16. Dezember 2022, berät der Bundesrat über das umstrittene Chancenaufenthaltsgesetz der Koalition. Während die Regierung den Migrant*innen damit das Leben leichter machen möchte, warnen Fachbehörden und Kommunen vor falschen Signalen an Armutsflüchtlinge und schwerwiegenden Konsequenzen für den Sozialstaat.
BSZ: Herr Ströhlein, der vollständige Name Ihrer Behörde lautet Landesamt für Asyl und Rückführungen – aber mit dem zweiten Teil hapert es derzeit etwas, oder?
Axel Ströhlein: Die Ampel hat den bewährten Grundsatz, dass eine gute Migrationspolitik neben der natürlich erforderlichen humanitären Komponente auch ordnungspolitische und steuernde Aspekte umfassen muss, offenbar aufgegeben. Der Koalitionsvertrag enthält zwar das Lippenbekenntnis zu einer „Rückführungsoffensive“. Wenn man sich aber die aktuellen Gesetzesentwürfe anschaut, ist davon nichts zu sehen. Selbst der angekündigte Rückführungsbeauftragte der Bundesregierung – der sich darum kümmern soll, dass die Herkunftsstaaten besser bei der Rückführung kooperieren – ist noch immer nicht benannt.
BSZ: Wie viele Rückführungen gab es zuletzt in Ihrem Zuständigkeitsbereich?
Ströhlein: Im Jahr 2020 – also noch unter den eingeschränkten Bedingungen der Pandemie – erfolgten in unserem Bereich 1558 Rückführungen. Im vergangenen Jahr gingen die Einschränkungen dann zurück, die Zahlen stiegen auf 1913 Rückführungen. Heuer werden wir wieder, auch aufgrund der Einschränkungen bei Rückführungen nach Osteuropa, auf dem Niveau des Vorjahrs liegen, das heißt voraussichtlich bei knapp 2000 Rückführungen.
BSZ: Wobei mehr Personen ausreisen müssten: Woran scheitert deren Rückführung?
Ströhlein: Die Zahl der Ausreisepflichtigen – also derjenigen, die nach Durchführung eines rechtsstaatlichen Verfahrens das Land verlassen müssen, dies aber häufig nicht tun – liegt deutlich höher. Dann sind Rückführungen notwendig. Aber es gibt eben vielfältige Hindernisse: nachvollziehbare, wie Erkrankungen oder Schwangerschaften und dadurch fehlende Reisefähigkeit; aber häufig auch eigenverschuldete – wie Untertauchen und fehlende Auffindbarkeit am Abschiebungstag. Häufig scheitern Rückführungen aber auch daran, dass die Zielländer die Aufnahme verweigern und beispielsweise den Flugzeugen keine Landegenehmigung erteilen.
BSZ: Was könnte man dagegen unternehmen?
Ströhlein: Ganz klar: Gegen Untertauchen helfen Abschiebehaft und Ausreisegewahrsam. Auch da hätte ich mir gewünscht, dass die Ampel bei ihren Vorstößen zum Chancenaufenthaltsrecht im Gegenzug mehr Klarheit schafft; das geschah aber leider nicht. Aktuell heißt es im Gesetz, dass die Einrichtungen für den Ausreisegewahrsam sich in der Nähe eines Flughafens befinden müssen. Aus praktischer Sicht ist das aber nicht sehr hilfreich. Es kann doch für eine Unterbringung im Ausreisegewahrsam keine Rolle spielen, ob man eine Stunde oder eineinhalb Stunden zu einem Flughafen fährt, wenn dann ein Direktflug möglich ist, bei dem nähergelegenen Flughafen aber mit Transitzeiten letztlich die Reisedauer länger ist. Auch hinsichtlich der massiven Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit zahlreichen Zielländern, die die Rücknahme ihrer eigenen Staatsangehörigen hintertreiben, muss die Bundesregierung endlich handeln; dass hier nichts passiert, ist ein Armutszeugnis.
BSZ: Sehen Sie sich in Ihrer Arbeit von den Parteien im Landtag ausreichend unterstützt?
Ströhlein Die bayerische Maßgabe der Humanität und Ordnung funktioniert gut. Die aktuellen Regierungsparteien vertreten diese Linie. Wir priorisieren Straftäter und prüfen die Einzelfälle, um dem Einzelfall gerecht zu werden.
BSZ: Und sollte es nach der Landtagswahl 2023 auch in Bayern zu einer Ampel-Regierung kommen?
Ströhlein: Wir vollziehen konsequent den Gesetzeswortlaut. Es ist wichtig, dass ein Rechtsstaat alle seine Gesetze – das Chancenaufenthaltsrecht, aber genauso die Ausreisepflicht – durchsetzt; wobei wir für die Gesetze ja nicht verantwortlich sind, sondern nur für den Vollzug. Wie schon erwähnt, scheitern Rückführungen häufig auch daran, dass die Zielländer die Kooperation verweigern.
BSZ: Da wäre doch Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) gefordert?
Ströhlein: Richtig, hier müssten vom Bund mit den Zielländern endlich konkrete Vereinbarungen für die Rückführung getroffen werden. Das müsste bei Staatsbesuchen auch thematisiert werden. Es gibt viele Projekte, bei denen Deutschland mit den Zielländern wirtschaftlich kooperiert, gerade in Afrika. Das Thema Migration nicht mit abzudecken, halte ich für falsch. Man sollte die Kontakte zu diesen Ländern ganzheitlich betrachten. Es ist doch keine Unzumutbarkeit, von einem Staat zu fordern, dass er seine eigenen Bürger und Bürgerinnen, die unser Land wieder verlassen müssen, auch wieder zurücknimmt.
BSZ: Dass aufgrund des Krieges in der Ukraine viele Menschen von dort flüchten, ist nachvollziehbar: Aber warum steigen auch die Einreisen aus anderen Regionen so massiv?
Ströhlein: Das liegt zum Teil auch an politischen Signalen, die von der aktuellen Bundesregierung gesetzt werden – wie beispielsweise das Chancenaufenthaltsgesetz. Man soll künftig etwa auch Integrationskurse in Deutschland besuchen können, wenn man aus einem sicheren Herkunftsland kommt. Das halte ich für problematisch. Denn es wird das Signal einer Integration von Anfang an gesetzt, ohne dass es auf den Ausgang des Asylverfahrens ankommt. Außerdem profitieren vom neuen Chancenaufenthalt auch Personen, die jahrelang nicht an ihrer Identitätsklärung mitgewirkt haben und nur deshalb überhaupt noch da sind; selbst eine aktive Täuschung führt nicht automatisch zum Ausschluss vom Chancenaufenthaltsrecht. Damit werden problematische Signale gesetzt, da die Botschaft ankommen kann, dass man auch dann, wenn man gesetzliche Pflichten wie die zur Klärung der eigenen Identität missachtet, gute Chancen hat, nach einigen Jahren seinen Aufenthalt zu legalisieren.
BSZ: Viele Pull-Faktoren also für Armutsmigration?
Ströhlein: Die Sicherung des Lebensunterhalts sollte bei den Aufenthaltsgewährungen bei nachhaltiger Integration (Paragraf 25b Aufenthaltsgesetz) konsequent garantiert sein; da müsste man noch nachbessern. Es muss beispielsweise verhindert werden, dass eingewanderte Personen zwar einige Jahre mit schlecht bezahlten Tätigkeiten gerade so ihren Unterhalt bestreiten – aber später dann unter Umständen Sozialleistungen in Anspruch nehmen müssen. Stichwort: Altersarmut.
BSZ: Die Ampel kontert ihre Gegner*innen, die geplanten Regelungen entsprächen dem Willen der Bevölkerungsmehrheit.
Ströhlein: Wir leben in einer repräsentativen Demokratie und die Ampel hat momentan im Parlament die Mehrheit. Ich glaube aber, dass viele Menschen derzeit angesichts der massiv steigenden Zuwanderung erkennen können, wenn Kapazitätsgrenzen in den Kommunen erreicht werden. So sind die Ankereinrichtungen übervoll und in einigen wenigen Städten und Gemeinden mussten auch erneut Turnhallen für die Unterbringung genutzt werden. (Interview: André Paul)
Bildunterschrift zum Foto im Text:
Axel Ströhlein (50) leitet das Bayerische Landesamt für Asyl und Rückführungen seit 1. November 2020. (Foto: LFAR)
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