Politik

Die Zeugenbetreuerinnen Mehtap Karatay (l.) und Melanie Linhard im Flur im Landgericht in Nürnberg. (Daniel Karmann/dpa)

04.07.2016

Die Angst dem Täter entgegenzutreten

Eine Frau wird Opfer von Gewalt und muss den Täter vor Gericht wiedersehen - Mehtap Karatay nennt das die „Standardsituation“. Karatay soll Zeugen am Nürnberger Gericht Ängste nehmen

Der Nürnberger Justizpalast ist ein imposantes Gebäude. An der schlichten Fassade thronen Steinbildnisse bedeutender Rechtsgelehrter. Im Innern ist es kühl, die marmornen Gänge sind weit. Auf diejenigen, die Mehtap Karatay in der Halle empfängt, wirkt der monumentale Bau oft einschüchternd. Karatay ist Zeugenbetreuerin am Nürnberger Amts- und Oberlandesgericht. Ihre Aufgabe beschreibt die 33-Jährige so: erklären, beruhigen, Vertrauen aufbauen. Manch ein Zeuge hat nur formelle Fragen, ein anderer braucht eine haltende Hand. «Viele Zeugen sind verunsichert und das erste Mal vor Gericht», sagt Karatay.

Die Gerichtsgänge führen zu den Sitzungssälen. Hier werden Täter gehört, Zeugen vernommen und Urteile gesprochen. Gerechtigkeit im besten Fall. «Man wartet wie auf heißen Kohlen vor diesem Sitzungssaal», sagt Karatay. Deshalb gibt es den Zeugenbetreuungsraum.

An der Wand hängen Zeitschriften, vor dem Fenster ist eine Kinderecke mit Puzzles und Duplo-Steinen, gegenüber steht ein alter Kassettenspieler: Zur Wahl stehen «Die Schlümpfe», «Der König der Löwen», «Der Struwwelpeter». Die Zeugen, vor allem Kinder, sollen hier auf andere Gedanken kommen. Ablenkung mit Simba, Timon und Pumbaa, mit Schlumpfine und Gargamel.

Konfrontation mit der Tat: Viele wollen erst einmal nicht aussagen

Der Prozess ist vielfach auch eine Konfrontation mit der Tat. «Ein Großteil der Leute, die kommen, sind Opfer», sagt Karatay. Und von ihnen bildeten Frauen, die Opfer körperlicher Gewalt geworden sind, den größten Teil. Viele wollten häufig gar nicht erst aussagen.

Karatays Vorgängerin Melanie Linhard hat sich während der Aussage einer sexuell Missbrauchten schon mal neben die Zeugin gesetzt, um sie zu unterstützten. «Das hat ihr definitiv gut getan», sagt die 28-Jährige. Eine Frau, die Opfer von Gewalt geworden ist und Angst hat, dem Täter entgegenzutreten - Karatay nennt das eine «Standardsituation» der Zeugenbetreuung.

Opfer werden durch einen Vermerk in der Vorladung auf die Zeugenberater aufmerksam gemacht. Andere werden oft von der Polizei oder Mitarbeitern der Opferhilfe «Weißer Ring» vermittelt. Etwa fünfmal wöchentlich wird Karatay in ihrer Funktion als Zeugenbetreuerin angerufen. Hinzu kommen persönliche Begegnungen vor den Prozessen. Laut bayerischem Justizministerium haben sich 2015 mehr als 7500 Zeugen im Freistaat an die Betreuer gewandt.

Mehr als 7500 Zeugen haben sich in Bayern 2015 an die Betreuer gewandt

Deutschlandweit ist die staatliche Opferhilfe nach Angaben des Bundesjustizministeriums unterschiedlich organisiert. Während Länder wie Baden-Württemberg und Bayern Zeugenberatungsstellen bei den Amts- und Landgerichten eingerichtet hätten, seien in Ländern wie Berlin Opferhilfeeinrichtungen für die Zeugenbetreuung zuständig. Bundesweite Fallzahlen gibt es nicht. Was es gibt, sind Publikationen wie die «Opferfibel» vom Bundesjustizministerium. Auf mehr als 80 Seiten werden «Rechte von Verletzten und Geschädigten im Strafverfahren» genannt. Die Opfer können sich umfassend informieren - viel wichtiger ist oft aber die haltende Hand.

«Es geht hier wirklich um das Emotionale», sagt Karin Bruckmüller, die an der Ludwig-Maximilians-Universität München im Bereich der Opferforschung tätig ist. Kaum jemand fühle sich bei Gericht wohl, Abläufe und Formalien seien ohnehin unbekannt. Wie es Opfern vor Prozessbeginn geht? «Die werden nervös, fühlen sich unsicher, und das kann dazu führen, dass die auch nicht aussagen wollen.» Nicht nur die Zeugen profitieren von den Betreuern. «Der Verlauf kann sehr viel reibungsloser für alle sein, wenn das Opfer Unterstützung hat.»

Karatay und Linhard sind gelernte Rechtsanwaltsfachangestellte. Ihre Hauptaufgabe im Justizpalast ist die der Protokollführerin – Urteile tippen, Akten bearbeiten, Anrufe entgegennehmen. Die Zeugenbetreuung erledigt Karatay nebenbei - und ist doch ganz bei der Sache: «Entweder man ist einfühlsam, oder man ist es nicht.» (Michel Winde, dpa)

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